Vergewaltigungskultur: Frau wird misstraut
Die französische Schauspielerin Maria Schneider war 19 Jahre alt, als sie 1972 mit dem Film «Der letzte Tango von Paris» weltberühmt wurde. Eine Vergewaltigungsszene, die ohne ihr Einverständnis gedreht wurde, veränderte ihr Leben. Sie sprach danach mehrmals öffentlich darüber. Empörung löste das Vorgehen des Regisseurs Bernardo Bertolucci jedoch erst aus, als dieser Jahrzehnte später gesteht. Zu diesem Zeitpunkt war Maria Schneider bereits tot.
Echte Tränen
In der Szene überwältigt der damals 48-jährige Marlon Brando Maria Schneider von hinten und schiebt ihr Butter in den Anus. Schneider liegt wehrlos auf dem Bauch und weint. Was die meisten damals nicht wussten: Ihre Tränen waren nicht gespielt, sondern echt. «Ich habe mich vergewaltigt gefühlt, sowohl von Marlon Brando als auch von Bernardo Bertolucci», sagte Schneider später in einem Interview der «Daily Mail».
«Ich wollte, dass sie gedemütigt reagiert»
Die Szene stand nicht im Drehbuch. Der Regisseur hatte die junge Schauspielerin erst unmittelbar vor dem Dreh informiert. Schneider sagte der «Daily Mail», sie sei sehr wütend gewesen, habe aber zu wenig Erfahrung gehabt, um sich zu wehren. Jahrzehnte nach den Aufnahmen sagte Bertolucci in einem Interview im niederländischen TV-Sender NTR, er habe ihre Reaktion als Mädchen und nicht als Schauspielerin filmen wollen. «Ich wollte, dass sie gedemütigt reagiert und die Demütigung nicht spielt.» Er fühle sich schuldig, bedauere aber nichts. Ein Künstler brauche grosse Freiheit. Das Interview fand 2013 statt, zwei Jahre nach dem Tod von Schneider. Ein Video dieses Interviews wurde Ende November erneut in den sozialen Medien verbreitet und löste erst jetzt einen Sturm der Entrüstung aus. Schauspielerin Jessica Chastain twitterte: «An alle, die diesen Film lieben: Ihr seht euch an, wie eine 19-Jährige von einem 48-jährigen Mann vergewaltigt wird. Der Regisseur hat diesen Übergriff geplant. Mir ist schlecht.»
«Wir misstrauen Frauen»
Feministische Autorinnen im englischsprachigen Raum führen die späte Reaktion auf die herrschende Vergewaltigungskultur zurück. Vergewaltigungskultur definieren die Sozialwissenschaften als Kultur, in der sexuelle Gewalt toleriert wird. Taten werden verharmlost, Opfer nicht ernst genommen und Täter nicht zur Verantwortung gezogen oder milde bestraft. Film-Journalistin Melissa Silverstein schrieb im «Guardian», diese Kultur ermögliche es Männern wie Bertolucci, Grenzen gegenüber Frauen zu überschreiten. Maria Schneider habe den Übergriff öffentlich gemacht, aber niemand habe reagiert. «Wir misstrauen Frauen bis heute, wenn sie sagen, sie seien vergewaltigt worden.» Hingegen seien Bertolucci und Brando für Oscars nominiert worden. «Sie haben auf dem Rücken einer Frau Karriere gemacht».
Täter bleibt unbehelligt
Im «Independent» schrieb die junge Feministin Mariana Fonseca, die Vergewaltigungskultur ermögliche Übergriffe, weil der Wille von Frauen nichts zähle und Täter nicht zur Verantwortung gezogen werden. Bertolucci habe den Übergriff 2013 nur zugegeben, weil er wusste, dass dies für ihn keine Konsequenzen mehr haben werde. Das Leben von Schneider hingegen sei nach dem «Letzten Tango» ruiniert gewesen. Nacktszenen habe sie nie mehr gedreht. Trotzdem habe man sie Zeit ihres Lebens als Sexsymbol und nicht als seriöse Schauspielerin wahrgenommen. Sie habe Depressionen gehabt und sei drogenabhängig geworden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine