Judith Butler gilt als Vordenkerin der Gender-Theorie. Danach ist das biologische Geschlecht bedeutungslos. © puh

Judith Butler: Attacken statt Argumente

Martina C. Meier /  «Who’s afraid of gender?» solle Hoffnung machen, schreibt die aktuell umstrittene Autorin in der Einleitung. Gelingt ihr das?

Judith Butler widmet ihr neues Buch den jungen Menschen, von welchen sie noch immer lerne. Sie wolle analysieren, was hinter der «Anti-Gender-Bewegung» stehe und welche politischen Zusammenhänge erkennbar seien. Dabei sei es weniger wichtig, nochmals zu erklären, was das Konzept «Gender» meine, es gehe vielmehr um das Durchschauen der gegnerischen Kräfte und darum, diese zu kontern. In zehn Kapiteln auf insgesamt fast 300 Seiten nimmt Butler Stellung zu Genderfragen, zur Critical Race Theory und zur politischen Debatte weltweit. Ich zitiere hier einen Satz aus der Einleitung, um den Ton, in dem das Buch gehalten ist, spürbar zu machen: «Die Anti-Gender-Bewegung», so Butler, sei «eine Form von Anti-Intellektualität, welche das Denken selbst als Gefahr für die Gesellschaft einschätze – fruchtbarer Boden für die horrende Kollaboration faschistischer Leidenschaften mit autoritären Regimes.»1 Starker Tobak. Weiter unten steht: «Meine Aufgabe hier ist, weder eine neue Gendertheorie zu liefern noch die Theorie der Performanz, die ich vor fast 35 Jahren angeboten habe, zu verteidigen oder zu überdenken (…).» Butler verweist hier auf ihr bekanntestes Buch «Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity» (1990), in Deutsch erschienen unter dem Titel «Das Unbehagen der Geschlechter».

Das Phantasma der Anti-Genderisten
Judith Butler kündigt in der Einleitung des neuen Buches auch an, welche Klammer sie dem ganzen Thema geben wird: nämlich die psychosoziale Hypothese, die Anti-Genderisten hätten ein «Phantasma» aufgebaut, in das sie alles hineinlegten, was ihrer Vorherrschaft gefährlich werden könne. Diese Strategie müsse durchschaut und bekämpft werden, denn sie drohe, sämtliche Errungenschaften für Frauen und queere Menschen zunichte zu machen. Butler zitiert den französischen Psychoanalytiker Laplanche, um den Begriff «Phantasma» zu erläutern und reduziert ihn dabei auf ein «Hirngespinst». Damit kann sie unterstellen, dass von Papst Franziskus über den rechtspopulistischen Politiker bis zur Frauenrechtlerin eine gemeinsame Angst gegenüber der «Gendertheorie» bestünde. Das ist alles andere als einleuchtend, denn es geht bei allen um ganz verschieden gelagerte Fantasien, Interessen und Befürchtungen. Das Interesse katholischer Würdenträger ist seit jeher die Kontrolle der Frauen, bei rechtspopulistischen Akteuren steht die Abwehr von Homosexualität an erster Stelle und bei Frauenrechtlerinnen geht es um die Ablehnung der Definition des Geschlechts (sex) anhand der sogenannten Geschlechts­identität (gender identity), weil sich dies frauenfeindlich auswirken könnte.

Attacken statt Argumente
«Who’s afraid of gender?» ist kein Buch, das erklärt, sondern ein Pamphlet, das sich gegen alle richtet, die philosophisch, wissenschaftlich oder gesellschaftspolitisch anderer Meinung sind. In dem Sinne entlarvt sich Butler selbst als eine Intellektuelle, die sich scheut, Einwänden mit Argumenten zu begegnen. Dies wird im Kapitel «TERFs and British Matters of Sex» deutlich. Hier spricht Butler abwertend über Feministinnen, welche die Setzung, dass die Geschlechtsidentität über die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht entscheide, ablehnen. Butler benutzt dieselben Schimpfwörter wie sie auf Demonstrationen verwendet werden. So nennt sie Kritikerinnen wie Kathleen Stock TERFs (Trans-exclusionary Radical Feminists) und unterstellt, diese «radikalen Feministinnen» würden die Existenz von Transpersonen leugnen. Ich hätte erwartet, dass Butler die seriös und sehr breit geführte Debatte über «sex» und «gender», wie sie sowohl in politischen wie auch akademischen Kreisen stattgefunden hat, berücksichtigen würde. Stattdessen bezichtigt sie zahlreiche Denkerinnen der Frauenbewegung des Positivismus oder gar des faschistischen Denkens, obwohl sie selbstverständlich weiss (und in ihrer Funktion als ehemalige Professorin auch wissen muss), dass weder Simone de Beauvoir, Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies, noch Gerda Lerner, Carola Meier-Seethaler oder Vandana Shiva im Entferntesten je faschistisch gedacht und geschrieben haben.

Butlers Performanztheorie
Statt über viele Seiten hinweg die Spaltung in der Frauenbewegung zu beklagen, hätte Butler die Gelegenheit gehabt, zu erklären, weshalb sie die Bedeutung des Diskurses einerseits sehr hoch einschätzt und es andererseits bewusst unterlässt, «sex» und «gender» klar zu definieren. Als Leserin hätte ich auch gerne gewusst, wie denn die Annahme einer kulturellen Beeinflussbarkeit des biologischen (= körperlichen) Geschlechts mit der modernen Evolutionstheorie in Übereinstimmung gebracht werden kann. Es hätte mich interessiert, weshalb Butler meint, jede bisherige Definition von Frau sei rassistisch konnotiert gewesen. Sie erläutert jedoch keine dieser Setzungen, sondern sagt nur, dass Feministinnen, die ihre Performanztheorie ablehnten, rechtsgerichteten Parteien zuarbeiten würden.

Weil Butler es unterlässt, die Gegenargumente zu ihren Thesen aus den 1990er Jahren korrekt zu referieren, fasse ich hier einige der Kritikpunkte zusammen: Herta Nagl-Docekal betonte in ihrem Buch «Feministische Philosophie» von 2000, das Geschlecht eines Menschen werde nicht dadurch hervorgebracht, dass man es als weiblich oder männlich bezeichne (bei der Geburt); denn damit eine Zuschreibung überhaupt möglich sei, müsse vorher schon etwas vorhanden sein. Sie weist ferner auf die Notwendigkeit hin, die Ebene der Beschreibung von der Ebene der Bewertung zu unterscheiden. Und: Die Zuschreibung ‹weiblich› oder ‹männlich› bei der Geburt ist keinesfalls notwendigerweise Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses – auch hier macht Butler einen Kategorienfehler.

Die Befreiung aus Herrschaftsverhältnissen setzt voraus, dass man sie verstanden hat
Nach Gerda Lerner (The Creation of Patriarchy 1986) ist in der Geschichte Mesopotamiens ersichtlich, wie die Veränderung der Familienstruktur und die Kontrolle der Sexualität der Frau mit der Errichtung einer Sklavenhaltergesellschaft einherging. Solche Gesellschaften werden, da die Abstammung nach dem Vater gerechnet wird, Patriarchate genannt. Lerner zeigte, dass die Unterjochung der Frauen bzw. ihrer reproduktiven Kräfte der Schichten- und Klassenbildung vorausgingen. In klassischen Patriarchaten (Westasien, China, Mittelmeerraum) werden Männern überwiegend positive, Frauen stets negative Eigenschaften zugeschrieben, die Welt als männliche Kreation imaginiert und die Frauen ausgebeutet. Dagegen entstanden Frauenbewegungen als besondere Formen von Befreiungsbewegungen.

Auf der Analyse, dass sich Frauen und Männer zwar körperlich, nicht aber in ihren Begabungen und Fähigkeiten unterscheiden, beruht auch die Gleichstellungspolitik der letzten Jahrzehnte. Viele klassische Feminis­tinnen vor Butler haben erforscht, was eine patriarchale Gesellschafts­ordnung und Ideologie ausmacht und welche Faktoren diese stützen. Dasselbe gilt für die Analyse des kapitalistischen Wirtschafts­systems, das von zahlreichen Wissenschaftlerinnen auch im Hinblick auf die Geschlechterrollen kritisiert worden ist. All dies scheint Butler nicht zu kümmern. Sie benutzt Wörter wie «Patriarchat» und «Kapitalismus» ohne die notwendigen historischen und soziologischen Kontexte dazu zu benennen.

«Wer nicht für mich ist, ist gegen mich»
Im Kapitel Nature/Culture ringt sich Butler dann doch noch zu einigen Argumenten durch und zitiert z.B. Donna Haraway, die von einer Einheit von Kultur und Natur ausgeht. Sie will damit ihre unhaltbare Position, dass es keine von der menschlichen Kultur unabhängigen Naturtatsachen gebe, stützen. Haraways Positionen sind genauso wie Butlers Performanztheorie keineswegs breit akzeptiert – sowohl von philosophischer als auch von politischer Seite gibt es deutliche Kritik. Butler hätte sich mit Autorinnen beschäftigen können, die einleuchtend erklärt haben, dass die westliche Sicht auf die Natur als Ressource von patriarchalischen Vorurteilen geprägt ist. Autorinnen wie Evelyn Fox Keller oder Carola Meier-Seethaler haben gezeigt, wie und weshalb psychische Eigenschaften in die Natur und in die beiden Geschlechter hineinprojiziert worden sind. Dass Feministinnen unter Befreiung nicht die Befreiung vom natürlichen weiblichen Körper verstehen, sondern die Befreiung der Frauen aus Gewaltverhältnissen, Ausbeutung und einseitigen Geschlechterrollen, schien einmal generell akzeptiert zu sein – bis die Queertheorie dieses Verständnis vernebelte. Judith Butler scheint sich vollständig mit dieser zu identifizieren und setzt sich über alle Standardwerke des Feminismus hinweg. Damit postuliert sie, dass «queer» die neue Norm für alle richtig feministischen Frauen sein müsse.

Butlers Verteidigung der Critical Race Theory fällt ebenso apodiktisch aus wie ihre Verteidigung der Queertheorie. Wer Einwände formuliert, ist einfach nicht auf der richtigen Seite. Das dient dem kritischen Disput zwischen den Geschlechtern kaum.

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1 Alle Übersetzungen: M. C. Meier
Martina C. Meier ist freischaffende Biologin und Ökofeministin.
Dieser Artikel erschien zuerst auf infosperber.ch

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