Yoko, Oma, Jackie und ich
Die meisten Witwen leben im gesellschaftlichen Schatten. Schade. Denn man könnte viel von ihnen und über sie lernen. Seit vierzehn Monaten bin ich Witwe. Erst seither sehe ich andere Frauen, die es auch sind. Ich sehe ihre Autonomie. Ich sehe ihre Trauer. Ich sehe ihre Kraft und ihre Verletzlichkeit, ihre neue Radikalität und ihren Alltag als Alleinstehende als ungerade Zahl an Samstagabendtischen. Und: ich sehe ihre Unsichtbarkeit. Vor dem Tod meiner Lebensliebe war auch ich witwenblind. Klar: ich kannte die Geschichte der Witwe Bolte, dem Opfer von Bubenstreichen. Ich erinnere mich an die Bilder der schönen Jackie, die in grosser Würde, schwarz verschleiert, die beiden Kinder an der Hand, ihren eingesargten Mann eskortierte. Und ich trauerte mit Yoko Ono, der japanischen Künstlerin, die gut zehn Jahre nach dem medial gefeierten Bed- in mit John Lennon von einer Sekunde auf die andere verwitwete, weil ein Wahnsinniger dem Pop- Idol in den Rücken schoss. Ich kannte zwar alleinstehende Frauen. Bezeichnenderweise bemerkte ich aber nicht, dass auch sie Witwen waren. Selbst meine geliebte Oma habe ich nie als Hinterbliebene wahrgenommen. Diese Frauen wurden weder befragt noch waren sie gefragt, all diese Schattenfrauen mit ihrer grossen Lebensexpertise. Sie sind der Rede wert, in einer Welt, die Resilienz als neue Leistungsnorm postuliert.
Schattenfrauen- Schattenforschung
Ich habe Witwenexpertinnen befragt. Ihre Forschung und ihre Erkenntnisse sind gleich der Subjekte ihrer Recherche nie wirklich ans Licht des öffentlichen Interesses gekommen. «Witwenschaft betrifft vornehmlich Frauen. Und alles was Frauen betrifft, wurde von Männern wenig erforscht. Und in der Forschung gibt es halt immer noch viel mehr Männer als Frauen.» Das sagt die Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig- Chiello, eine Spezialistin, die biografische Übergänge und kritische Lebensereignisse wissenschaftlich erhellt hat. In einer Langzeitforschung hat sie nachgewiesen, dass Frauen nach Trennung oder Scheidung länger leiden als ihre verwitweten Geschlechtsgenossinnen. Offenbar ist es also leichter, wenn der Tod scheidet und nicht das Leben. Die Entwicklungspsychologin macht ausserdem einen erstaunlich grossen Gender Gap zwischen hinterbliebenen Männern und Frauen aus: «Für beide Geschlechter ist Verwitwung eine sehr anspruchsvolle Transition. Aber die Leidensmuster sind verschieden. Während die Frauen eher mit Depressionen kämpfen, lösen die Männer ihre Schwierigkeiten häufig mit einer schnellen neuen Partnerschaft oder destruktiven Akten.» Mit destruktiven Akten meint die Expertin das stark erhöhte Suizidrisiko und die grosse Gefahr, in eine Sucht zu geraten. Frauen erholen sich schneller vom Verlustschmerz, weil sie in der Regel sozialer eingebunden sind und besser über Gefühle sprechen können. Aber auch wenn die soziale Einsamkeit aufgehoben ist, bleibt doch die emotionale Einsamkeit: »Da geht es um das Vakuum in der eigenen Identität. Klar, man war immer schon ein Ich. Aber man war auch ein Teil eines gefestigten Wir. Dieses Wir ist nun eine Leerstelle. Die Aufgabe heisst jetzt, sich neu zu definieren, die eigene Identität neu zu konstituieren.» Was Perrig – Chiello beschreibt ist ein Kraftakt, der Zeit braucht. Die gute Nachricht: zwei Drittel aller Menschen schaffen das. Und: Frauen besser als Männer.
Uneindeutige Witwen
«Ambiguous Loss», der uneindeutige Verlust ist ein noch weitgehend unbekanntes Konzept der amerikanischen Psychologieprofessorin Pauline Boss. Sie gilt als Expertin für unlösbares Leid. Das Konzept bezieht sich auf sehr unterschiedliche Schicksale. Gut darüber Bescheid weiss die Gerontopsychologin Bettina Ugolini. Ich treffe sie auf ihrer Zürcher Beratungsstelle «Leben im Alter»: «Das Phänomen »uneindeutiger Verlust« bezieht sich auf zwei unterschiedliche Erscheinungsformen von Verlusterfahrungen: Zum einen ist die Gruppe der Menschen betroffen, die einen Menschen verloren haben, ohne den Leichnam beerdigen zu können. Wie beispielsweise die Opfer nach einem Flugzeugabsturz. Zum anderen trifft der «uneindeutige Verlust» für diejenigen zu, die einen Angehörigen als Person verlieren, wie dies zum Beispiel bei der Demenz oft der Fall ist. «Damit hat die Altersspezialistin in ihrem Beratungsalltag viel zu tun. «Es ist eine besonders grosse seelische Belastung für die Begleitenden. Eine ehemals vertraute Person wird einem fremd, ohne dass man sich emotional endgültig von ihr lösen könnte. Es entsteht ein Prozess des Abschiednehmens, eine schmerzliche Abfolge von kleinen und immer häufigeren Unwiederbringlichkeiten.» Betroffen von dieser Kette von Abschieden war die «uneindeutige Witwe» Hanni Holzer, die ihre Situation im Gespräch mit mir so auf den Punkt brachte: «Ich war viele Jahre lang eine Witwe mit Mann!» Es gilt für diese pflegenden Angehörigen Rituale zu finden, die ihre spezifischen Trauer eine Gestalt geben. Davon ist Ugolini überzeugt.
Witwengesetze
Verborgene schwarze Gestalten, aus der Welt gefallene Figuren waren die Grossmütter, die zwischen 1885 und 1910 geboren wurden. So wie meine Oma. Die Historikerin Heidi Witzig hat solche Frauenschicksale erhellt.» Für die meisten mittelständischen Frauen in der Generation unserer Grossmütter war die Frage: Wer bin ich ohne Mann? Mit dem Mann war auch der Status weg. Meistens hatten sie keinen Beruf erlernt.» Solche Frauen verwalteten meist einfach ihr Restleben und warteten auf den Tod. Heidi Witzig erzählt aber auch von den ausgezehrten armen Witwen, die hungerten, damit es für die Arbeitsfähigen im Betrieb oder auf dem Bauernhof noch reichte. «Die Entkräftung der alten Frauen war oft dem Hungern geschuldet. Sie hatten keine Widerstandskräfte mehr, die Hygiene war schlecht und wenn sie starben, war es der Herrgott, der sie heimgeholt hatte.»
Zu Lebzeiten meiner Oma war die durchschnittliche Lebenserwartung 55. Die Verhaltensregeln für die Frauen nach dem Tod ihres Mannes waren klar. Die Erforscherin der Geschichte weiblicher Alltäglichkeit sagt dazu: «Die Witwe hatte zu trauern. Und zwar lange Zeit. Ein Jahr schwarz. Ein Jahr halbschwarz. Natürlich trug sie gut sichtbar auch seinen Ehering. Man trauerte auf dem Friedhof, in der Kirche und in den eigenen vier Wänden. Festivitäten kamen nicht in Frage!»
Alles klar: Ich bin also Nutzniesserin eines zivilisatorischen Quantensprungs. Ich werde eingeladen und lade ein. Ich trage seinen Ring aus Styling-Gründen und aus selbstbestimmter Nostalgie. Und: meine Vorliebe für Schwarz hat nichts mit dem Tod zu tun. Aber «unsichtbar» sind meinesgleichen doch immer noch ziemlich. Und wo immer wir auftauchen, verunsichern wir merklich. Darum etwas Nachhilfe für den Umgang mit Frauen wie mir.
7 mal Do`s und Don’t`s
«Wie geht es dir?» ist eine gute Frage. Die Antwort darauf ist für Hinterbliebene aber oft schwierig. Besser ist die Frage: «Wie geht es dir heute?» Darauf lässt sich gut und konkret antworten. Viele fragen lieber überhaupt nichts, um die Trauernden nicht zu betrüben. Und genau das wird sie betrüben und innerlich isolieren.
Wer nicht gerne über Gefühle redet, kann einfach anpacken. Witwen haben nämlich im Alltag danach mindestens doppelte Arbeit! Mein Nachbar hat mir angeboten, für die nächste Zeit mein Altpapier zu bündeln und die Flaschen zu entsorgen. Was für ein Geschenk!
«Melde dich jederzeit, wenn du etwas brauchst!» Diese liebgemeinte Aufforderung zielt meist ins Leere. Trauernden fehlt nämlich oft die Kraft für diesen Akt. Besser: «Ich mache heute Abend eine Spaghettata. Es kommen ein paar liebe Leute. Ich würde mich sehr freuen, wenn du dabei wärst!» Bei einem Korb,- nicht verzagen, weiterfragen!
Trauer hat viele Gesichter. Diversity ist auch da die neue Norm. Selbsternannte Psychologinnen und Psychologen, die einem durchgeben, wie man in welcher Phase korrekt traurig zu sein hätte, sind die reine Behinderung. Ratschläge sind oft Schläge.
Gemeinsame Gespräche über den verstorbenen Menschen sind heilsam. Sie führen aus der Trauerisolation heraus, denn sie machen erfahrbar: ich bin nicht die Einzige, die der Verlust schmerzt. Es trauern auch andere: die grosse Schwester, der Freund, der Sohn, die Kollegin. Wer totgeschwiegen wird stirbt einen zweiten Tod.
Im Jahr nach dem Tod gibt es viele «erste Male ». Schmerzliches Neuland: die ersten Weihnachten, der Hochzeitstag, der Geburtstag und viele andere Tage. Es sind Hürdentage. Sprunghilfe tut not. Schön, wenn andere an diesen Tagen zeigen, dass sie daran denken und da sind.
Echte Komplimente sind Seelenbalsam, denn der Mensch, der sie bis anhin am meisten machte, lebt nicht mehr. Also nicht nur Bonjour Tristesse! Sondern auch: Bonjour ma Belle! Und schon ist die Unsichtbarkeit überwunden. Zumindest für einen Moment.
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Cornelia Kazis: Weiterleben, weitergehen, weiterlieben. Wegweisendes für Witwen. Xanthippe-Verlag, Zürich 2019, CHF 34.80 / EUR 34.80.
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Dieser Artikel erschien zuerst in der «Neuen Zürcher Zeitung».
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