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Gewalt an Frauen ist alltäglich. Christina Clemm macht Männer dafür mitverantwortlich: «Es reicht nicht, einfach nur selbst nicht gewalttätig zu sein.» © cc

«Gewalt an Frauen wird einfach hingenommen»

fs /  Die Abwertung von Frauen ist in der Gesellschaft tief verankert. Deshalb tut man zu wenig gegen Gewalt an Frauen, sagt eine Anwältin.

Christina Clemm vertritt seit fast dreissig Jahren Opfer von häuslicher Gewalt vor Gericht. Im Buch «Gegen Frauenhass» schreibt sie, dass patriarchale Strukturen den Alltag so umfassend durchdringen, dass es oft schwer ist, sie als solche zu erkennen: Im Netz, in der Sprache, im Beruf, in der Familie. «Am deutlichsten sieht man patriarchale Strukturen in der Gewalt von Männern an Frauen, in deren Ausmass und deren mangelnder Bekämpfung», sagte Clemm im Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ).

Schulterzuckende Akzeptanz
In Deutschland wird alle drei Tage eine Frau durch ihren (Ex-)Partner getötet. Viele wissen laut Clemm, dass Gewalt von Männern an Frauen häufig ist: «Aber das wird hingenommen, als könnte man nichts dagegen tun.» In der Schweiz wird durchschnittlich alle zwei Wochen eine Frau umgebracht. Mit den Opfern solidarisieren sich allenfalls Frauen. Die grosse Empörung bleibt auch hier meist aus. Jahrzehntelang mussten Frauen sogar dafür kämpfen, dass Frauenmorde in der Öffentlichkeit nicht als Beziehungsdelikte und Familiendramen verharmlost werden. 

Für Schlagzeilen sorgen andere
Dass es auch anders geht, zeigte im Frühling die Messerattacke gegen einen orthodoxen Juden in Zürich. Diese sorgte zu Recht wochenlang für Schlagzeilen. Mit einer Mahnwache solidarisierten sich viele Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen mit der jüdischen Gemeinschaft. Auf dem Nachhauseweg von der Synagoge sagte Ron Caneel dem TV-Sender SRF, er trage die Kippa in der Öffentlichkeit weiter. Doch nachts schaue er jetzt nach hinten, wenn jemand direkt hinter ihm gehe. «Das habe ich vorher nicht gemacht.» Frauen kennen dies. Der Unterschied: Gewalt gegen Frauen gilt als normal – und damit auch ihr angepasstes Verhalten.

Ausrede der Täter verhindert Prävention
Clemm kritisiert, dass man Frauen von klein auf beibringt, sich so zu verhalten, dass ihnen nichts passiert. «Jungs hingegen wird nicht mit gleicher Energie ein Verständnis für Grenzüberschreitungen beigebracht.» Bei Gewalttaten schiebe man dann oft den Frauen die Schuld zu, weil sie sich falsch verhalten haben. Dabei seien Männer durchaus in der Lage, abweisende Zeichen von Frauen zu erkennen. Trotzdem können sie sich laut Clemm immer noch damit herausreden, dass sie den Willen der Frau nicht bemerken konnten. Dieses Narrativ schütze Täter und verhindere eine effektive Prävention. 

Das Schweigen der Männer
Clemm appelliert insbesondere an Männer. Nach der Lektüre ihres Buches hätten sich viele schockiert gezeigt vom Hass und der Verachtung, denen Frauen täglich ausgesetzt sind. «Ich denke mir dann immer, wie ignorant Männer durch diese Welt gehen können.» Sie wundere sich, dass angeblich fortschrittliche Männer sich nicht viel mehr gegen geschlechtsbezogene Gewalt und ein fatales Männlichkeitsbild engagieren. «Es reicht nicht, einfach nur selbst nicht gewalttätig zu sein.» Es fehlt laut Clemm am Bewusstsein, wie tief Frauenverachtung in der Gesellschaft verankert ist und dass Frauenhass zu konkreter Gewalt führen kann. «Niemand würde sagen: ‘Es ist super, dass Männer ihre Frauen missbrauchen oder umbringen.’ Aber das Tolerieren von Ungleichbehandlung, die Abwertung von ‘weiblichen’ Eigenschaften – das ist die Folge einer tiefsitzenden Frauenverachtung. Nicht jeder Einzelne denkt so, aber die Gesellschaft insgesamt. Darauf beruht das Patriarchat.» 

Christina Clemm, Gegen Frauenhass, Hanser, München 2023, ISBN 978-3-446-27731-1, CHF 26.40 / EUR 22.–.

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