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Rachsucht der Frau halten viele für wahrscheinlicher als Machtmissbrauch des Mannes. © AL

Der Frau misstraut man

fs /  Eine Frau wirft ihrem früheren Vorgesetzten Übergriffe vor. Doch in Kommentaren steht nicht sein Verhalten im Fokus, sondern ihr Vorwurf.

Gottfried Locher, Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), ist zurückgetreten, weil ihm eine frühere Mitarbeiterin Übergriffe vorwirft. Der Sachverhalt war zunächst unklar. Trotzdem hielt das selbst renommierte Personen nicht von Kommentaren ab, die beispielhaft ein altbekanntes Muster offenbaren: Statt der angeblichen Übergriffigkeit des Mannes stand die angebliche Rachsucht der Frau im Vordergrund.

«Intrige»
Der Theologe Frank Jehle schrieb in der «Neuen Zürcher Zeitung» von einem «unwürdigen Schauspiel». Obwohl er zu diesem Zeitpunkt den Sachverhalt nicht kennen konnte, tat er die Vorwürfe als «Intrige» ab: «Lochers angebliche oder wirkliche Frauengeschichten gehen niemanden etwas an, solange nichts Strafrechtliches vorliegt. Dies ist offenbar nicht der Fall.» Es komme auf das Sachliche an und nicht auf persönliche Querelen: «Wer Locher kennt, weiss um seine grossen Qualitäten.» Er sei wohl einigen zu tüchtig: «Vieles am Kesseltreiben gegen Gottfried Locher wirkt wie ein hässlicher Rachefeldzug.»
Der Verweis auf das Strafrecht tauchte auch in anderen Kommentaren auf. Doch für Personen in Machtpositionen gelten strengere Massstäbe. Sie verletzen Grenzen, wenn sie die Würde und Integrität abhängiger Menschen nicht respektieren. Ob solche Grenzverletzungen strafrechtlich relevant sind, sollte gerade in kirchlichen Arbeitsverhältnissen keine Rolle spielen.

«Racheakt»
Auch der reformierte Theologe Josef Hochstrasser schrieb in einem Online-Gastkommentar für die «Tages-Anzeiger»-Gruppe von einem «Racheakt» gegen Locher. Hochstrasser witterte eine Verschwörung von Reformationspuristen, Moralisten und Feministinnen, die eine «starke Führungspersönlichkeit», auch weil diese ein Mann sei, fertig machen wollen. Kommentare auf Facebook zeigten, dass viele diese Ansicht teilen. Der Vorwurf, dass Frauen aus Rache Männer fertig machen ist ein altbekanntes Narrativ. Es basiert auf der Annahme, dass Frauen gerne Intimstes und Verletzendes preisgeben, um einem Mann zu schaden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Betroffene von Übergriffen brauchen mitunter Jahre, bis sie in der Lage sind, Vorwürfe zu erheben. Viele schweigen, weil sie davon ausgehen, dass man ihre Aussagen nicht ernst nimmt.

«Feigheit»
Theologieprofessorin Isabelle Noth kritisierte in der «Neuen Zürcher Zeitung», dass die Frau anonym bleiben will. Damit vertusche sie die «eigene Feigheit». Es sei leichter, unter dem Mantel der Anonymität Anschuldigungen vorzubringen, statt Konflikte wie Erwachsene offen und respektvoll auszutragen. «In der hierarchisch unterlegenen Position zu sein, heisst nicht automatisch, im Recht zu sein», kommentierte Noth in Unkenntnis des Sachverhaltes und offenbar auch in Unkenntnis der Angst von traumatisierten Übergriffsopfern, dass sie auch noch zu Opfern von Rache und Häme werden.

Machtmissbrauch
Die Kommentare von Noth, Hochstrasser und Jehle waren Ausdruck frauenfeindlicher Vorurteile, wie sich später herausstellen sollte. Sechs weitere Frauen erhoben Vorwürfe gegen Locher. Mitglieder des nationalen Parlamentes der Kirche (Synode) sprachen mit allen sieben betroffenen Frauen. Christoph Weber-Berg, Aargauer Kirchenratspräsident, zog aus diesen Gesprächen in der «Aargauer Zeitung» den Schluss, dass Locher sein Amt missbraucht hat, um Frauen unter Druck zu setzen und sich ihnen ungebührlich zu nähern. Er habe von ihnen gesetzte Grenzen auch im körperlichen und sexuellen Bereich missachtet. Es gehe um mehr als einen zeitlich weit zurückliegenden Einzelfall. Die Vorwürfe gegen Locher wird nun eine externe Stelle untersuchen. Für Locher gilt die Unschuldsvermutung.

Dem Mann glaubt man eher
Unter dem Hashtag #MeToo prangern seit fast drei Jahren unzählige Frauen Übergriffe von mehr oder weniger prominenten Männern an. Der Fall Locher zeigt, dass auch heute noch viele eine rachsüchtige Frau für wahrscheinlicher halten als dass ein Mann seine Machtposition für Übergriffe ausnutzt.


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