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Anna musst im Gerichtssaal ihre Vergewaltigung anschauen, obwohl sie keine Erinnerung daran hat. © ard

«Ich musste eigene Vergewaltigung ansehen»

fs /  Strafbehörden lassen Vergewaltigungsopfer nach einer Anzeige im Stich. Dies zeigen die mutigen Aussagen von Betroffenen.

Vier Frauen, die vergewaltigt wurden und die Täter anzeigten, berichten in der ARD-Dokumentation «Vergewaltigt. Wir zeigen an!», wie Strafbehörden und Vorgesetzte sie nach der Anzeige im Stich liessen.

«Das ist bis heute ganz schlimm»
Ein Kamerad töpfelte Bundeswehr-Soldatin Nora im Ausgang vermutlich K.O.-Tropfen ins Getränk und vergewaltigte sie in der Kaserne. Nora zeigte den Täter an. «Die Anzeige zu machen, das war unheimlich schwierig. Aber alles was danach war, hat es um Längen getoppt. Das war die Hölle.» Ihr Vorgesetzter fragte Nora, ob sie wisse, was Sie Ihrem Kameraden mit der Anzeige antue. Nora: «In dem Moment bin ich zum Täter gemacht worden, das war ganz schlimm. Das ist bis heute ganz schlimm.»

«Mir war wichtig, dass man mir glaubt»
Die Polizei fragte Nora, ob sie zu freizügigem Verhalten neige, gerne mit Männern flirte. Ob sie sich wirklich sicher sei, nicht doch ganz gezielt drauf hingearbeitet zu haben, dass sie mit dem Kameraden im Bett lande. Nora: «Wenn mein Partner nicht draussen gewartet hätte, wäre ich zur nächsten Brücke und wär ‹runtergesprungen. Da war Ende. Die haben mich so getroffen und verunsichert mit dieser Fragerei. Die haben mir so sehr eingetrichtert, dass ich das Leben von diesem Mann jetzt zerstöre, dass ich alles falsch gemacht habe und dass ich selber Schuld bin, dass das passiert ist.» Später erfährt Nora, dass sie vom Täter schwanger ist. Sie lässt die Schwangerschaft abbrechen. Diese Erfahrung werde sie ein Leben lang prägen, sagt Nora. Der Täter wird wegen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Die Strafhöhe sei ihr egal, sagt Nora. «Mir war wichtig, dass man mir glaubt. Sonst wäre ich für immer das hilflose Opfer geblieben.»

Opfer muss eigene Vergewaltigung anschauen
In Vergewaltigungsfällen ist die Beweislage für die Opfer oft schwierig. Nicht so im Fall von Anna. Sie war wie Nora zur Tatzeit nicht voll bei Bewusstsein. Doch die Täter hatten ihre Vergewaltigung gefilmt. Ihre Verteidiger unterstellten Anna vor Gericht, sie habe vielleicht doch freiwillig mitgemacht. Das Gericht stimmte deren Antrag zu, dass Anna sich das Video ansehen muss: «Das schlimmste an dem Verfahren war, dass ich gezwungen wurde, meine eigene Vergewaltigung anzusehen, obwohl ich nichts mehr davon wusste.» Im Gerichtssaal seien die Täter und viele andere Leute gewesen. Vor denen habe sie das Video bis zum Ende anschauen müssen, obwohl sie dabei zweimal zusammengebrochen sei. Anna: «Es war schlimmer als die Hölle.» Diese Bilder werde sie nie mehr vergessen. Die Täter wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Kein Termin für Verhandlung
Auch Lisa schildert in der ARD-Dokumentation, was sie seit der Anzeige gegen ihren Vergewaltiger erlebt hat. Fünf Jahre nach der Tat und dreieinhalb Jahre nach der Anklageerhebung wartet sie immer noch auf den Prozess gegen ihren Vergewaltiger. Lisa: «Warum läuft dieser Mensch frei herum? Warum wird dies zugelassen?» Der Pressesprecher des zuständigen Landgerichtes Köln begründet die Verzögerung mit fehlenden Ressourcen, um einen Termin für die Verhandlung anzusetzen. Laut ihrer Anwältin Natalia Chakroun verliert die Aussage von Lisa mit zunehmender Zeit an Glaubwürdigkeit und damit werde die Verurteilung des Täters immer unwahrscheinlicher.

Aussage gegen Aussage
Silke wurde von einem Bekannten in ihrem Haus auf dem Land vergewaltigt. In ihrem Prozess steht Aussage gegen Aussage, weil sie zu spät Anzeige erstattete und keine Spuren mehr gesichert werden konnten. Die Staatsanwältin plädiert auf Freispruch, weil Silke bei der Schilderung der Vergewaltigung nicht geweint hat. Laut ihrer Anwältin Julia Artmann-Eichler können Opfer von Straftaten im sexuellen Bereich die Tat nur ganz sachlich oder überhaupt nicht erzählen. Das Gericht verurteilte den Täter entgegen dem Antrag der Staatsanwältin zu einer Freiheitsstrafe.

Wenig Anzeigen
Nur 15 Prozent aller Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, erstatten in Deutschland Anzeige. Dies geht aus einer EU-Studie aus dem Jahr 2014 hervor. Fachleute fordern in der ARD-Dokumentation mehr Ressourcen für die Justiz und für Anlaufstellen auf dem Land, wo Opfer oft nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Das Personal bei den Strafverfolgungsbehörden müsse besser geschult werden, damit diese Vergewaltigungsopfer nicht im Stich lassen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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