Unbequeme Frauen riskieren mehr als unbequeme Männer
In Österreich nahm sich kürzlich die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr das Leben. Sie hatte sich auf Twitter mit Coronaleugnern auseinandergesetzt und wurde deshalb massivst bedroht. Zuletzt drohte man ihr und ihren Angestellten mit dem Tod. Behörden und Ärztekammer schützten nicht ihre Meinungsfreiheit, sondern rieten ihr zu schweigen. Doch das wollte Kellermayr nicht. Den Personenschutz musste sie grösstenteils selber bezahlen, was sie in den finanziellen Ruin trieb.
Frauen massiver bedroht als Männer
Frauen, die sich nicht mundtot machen lassen wollen, zahlen oft einen höheren Preis als Männer. Das zeigen auch aktuelle Beispiele aus der Politik:
- In den USA waren zwei Frauen die wichtigsten Zeuginnen bei den öffentlichen Anhörungen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Capitol-Sturm vom 6. Januar 2021. Cassidy Hutchinson, ehemalige Mitarbeiterin der Trump-Regierung, und die republikanische Abgeordnete Liz Cheney wurden danach laut der «New York Times» als Lügnerinnen verunglimpft und so massiv bedroht wie kein männlicher Zeuge. Liz Cheney wird ihren Sitz im Parlament verlieren, weil sie ausgesagt hat.
- China attackiert laut einem Bericht des von den USA mitfinanzierten «Australian Strategic Policy Institute» (ASPI) gezielt einflussreiche China-Expertinnen, Journalistinnen und Aktivistinnen in der ganzen Welt. Ziel sei es, «kluge asiatische Frauen» mundtot zu machen. Männer seien kaum von solchen Attacken betroffen. Die chinesische Regierung besteht fast ausschliesslich aus Männern. Für diese seien Frauen und Feminismus eine Bedrohung für die politische Stabilität, meint das ASPI. Sie nutze die frauenfeindliche Stimmung im Netz, um die Frauen im Schutz der Anonymität zu attackieren.
- In Russland sorgten die jungen Frauen von «Pussy Riot» vor zehn Jahren für Aufsehen, als sie in farbigen Sturmhauben in einer Kathedrale gegen Wladimir Putin und die mit ihm verbündeten Kirchenführer protestierten. Maria Aljochina und Nadeschda Tolokonnikowa wurden danach zu Straflager verurteilt, was in westlichen Medien für zu wenig Aufsehen sorgte. Doch die mutigen Frauen liessen sich nicht zum Schweigen bringen. Zuletzt stand Maria Aljochina wegen eines Posts über Kremlgegner Alexej Nawalny seit letztem Herbst unter Hausarrest. Dieser sollte laut der «New York Times» nun in eine Haftstrafe umgewandelt werden. Erst die spektakuläre Flucht von Aljochina ausser Landes sorgte in diesem Frühjahr für internationales Aufsehen.
Gewalt soll Frauen zum Schweigen bringen
Auch Gewalttäter wollen Frauen zum Schweigen bringen, schreibt die feministische US-Autorin Rebecca Solnit im Essay «Eine kurze Geschichte des Schweigens». Gewalt gegen Frauen sei Gewalt gegen ihre Stimme und damit gegen ihr Selbstbestimmungsrecht. Aktuelles Beispiel ist US-Schauspielerin Amber Heard. Sie machte vor einigen Jahren öffentlich, Opfer häuslicher Gewalt zu sein. Wegen dieser Aussage verklagte sie ihr Ex-Mann, US-Schauspieler Johnny Depp, sie wegen übler Nachrede und erhielt kürzlich in einem Aufsehen erregenden Prozess in erster Instanz Recht. Bei solchen Verleumdungs-Klagen geht es nicht um den möglichen Täter, sondern um die Frage, ob die Frau lügt.
Opfer häuslicher Gewalt schweigen oft, weil sie wissen, dass man bei Vier-Augen-Delikten meistens dem Mann glaubt. Die Glaubwürdigkeit ist laut Solnit entscheidend. «Wenn wir neu definieren, wessen Stimme Wertschätzung entgegengebracht wird, definieren wir auch unsere Gesellschaft und ihre Werte neu.» Eine Stimme zu haben bedeute, das Recht auf Selbstbestimmung zu haben, auf Teilhabe, auf Zustimmung oder eine abweichende Meinung.
Alte Strategie des Patriarchats
Subtiler finden Stummschaltungen auch im Alltag statt, wie die meisten Frauen aus eigener Erfahrung wissen. Online und offline hört man ihnen nicht zu, unterbricht sie, glaubt ihnen nicht, schüchtert sie ein, bedroht sie, wertet sie ab. Frauen zum Schweigen zu bringen ist eine alte Strategie des Patriarchats, wie die US-Altphilologin Mary Beard aufgezeigt hat. «Wenn es darum geht, Frauen zum Schweigen zu bringen, hat die westliche Kultur Jahrtausende praktischer Erfahrung», schrieb sie in einem Essay. Der «New York Times» sagte Beard vor einigen Jahren, dass das «männlich-kulturelle Begehren nach dem Schweigen der Frau» noch lange nicht überwunden sei.