Türkei kippt Vorrang der zivilen Heirat
In der Türkei machte sich bisher strafbar, wer sich von einem Imam trauen liess, ohne vorher standesamtlich geheiratet zu haben. Das türkische Verfassungsgericht hat diese Vorgabe unter Berufung auf die Religionsfreiheit und die Gleichstellung gekippt. Das geltende Recht diskriminiere Paare, die von einem Imam verheiratet werden, gegenüber unverheirateten Konkubinatspaaren, die sich nicht strafbar machen.
Kritik am Urteil
Das rein männliche Gericht hat den Entscheid mit 12 zu 4 Stimmen gefällt. Die Minderheit argumentierte, dass Imam-Trauungen nun eine Alternative zur zivilen Heirat werden. Dies werde für Frauen und Kinder negative rechtliche und ökonomische Folgen haben. Das Urteil des Höchstgerichtes ist auch in der Regierung auf Kritik gestossen. Die noch amtierende Familien- und Sozialministerin Ayşenur İslam befürchtet, dass nun illegale Kinderhochzeiten zunehmen werden.
Legalisierung der Polygamie
Kolumnistin Belgin Akaltan schrieb in der englischsprachigen Tageszeitung «Hürriyet Daily News», dass das Urteil unter dem Deckmantel der Freiheit und Gleichheit die Polygamie wieder legalisiere. Es sei Symptom dafür, dass der Frauenhass, der in der Türkei weit verbreitet sei, auch offiziell wieder akzeptiert werde. Ähnlich argumentierte der Kolumnist Taha Akyol in der Tageszeitung Hürriyet. Das Urteil entziehe Frauen den wichtigen Rechtsschutz: «Es ist eine Tatsache, dass in unseren unterentwickelten Gegenden die Mädchen durch die Imam-Trauung ihren Ehemännern ‹gegeben› werden. Bei solchen Eheschliessungen steht die Frau unter keinerlei gesetzlichem Schutz.» Die bisherige Strafandrohung habe mindestens «ein bisschen abschreckend» gewirkt. Diese Abschreckung gebe es nun nicht mehr.
Verfassungsgericht änderte Meinung
Vor 16 Jahren hatte das Verfassungsgericht noch einstimmig den Vorrang der zivilen Heirat bestätigt. Es begründete sein Urteil damals damit, dass das moderne türkische Zivilrecht die Rechte Frauen und Kindern schützt. Imam-Trauungen ohne vorherige zivile Heirat würden diesen Rechtsschutz und das Prinzip der Gleichstellung verletzen. Mit dem Vorrang der zivilen Heirat wolle die Türkei die Rechte von Frauen stärken und die Lebensqualität von Frauen und Kindern absichern, hiess es damals. Zivile Rechte würden religiöse Rechte nicht einschränken.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine