Frauen mit Brustkrebs-Screening leben nicht länger
Anfang Jahr hatten Experten des «Swiss Medical Board» die Promotoren von Brustkrebs-Screeningprogrammen in Aufregung versetzt mit der Forderung, in der Schweiz keine neuen Screening-Programme mehr aufzugleisen und bestehende Programme kritisch zu hinterfragen. Der Nutzen sei minim und die Gefahr von nutzlosen Operationen und Bestrahlungen gross.
«Völlig falsche Vorstellungen»
Unter dem Titel «Unsinn in bester Qualität» lässt die neuste Ausgabe des «Spiegel» fast keinen guten Faden am Screening:
- Die meisten Frauen machten sich über Nutzen und Schaden völlig falsche Vorstellungen, weil sie irreführend informiert würden. Viele Frauen mit Diagnose Brustkrebs meinten fälschlicherweise, die frühe Erkennung und Behandlung hätten sie gerettet.
- Frauen, die am Screening teilnehmen, leben nicht länger als die andern.
- Das Screening sei zu einem Geschäft verkommen, mit dem in Deutschland jedes Jahr über 200 Millionen Euro verdient würde.
- Experten verlangen, dass sich nur Frauen mit erhöhten Risiken screenen lassen.
In Deutschland lässt sich jede zweite Frau im Alter zwischen 50 und 69 Jahren, die kein besonderes Risiko für Brustkrebs hat, die Brüste «zur Früherkennung» röntgen. Das sind jedes Jahr rund 2,7 Millionen Frauen. Die Krankenkassen hätten dafür 220 Millionen Euro bezahlt, berichtet der «Spiegel». Doch dreissig Jahre nach Einführung der ersten Screening-Programme habe sich die Hoffnung, unter dem Strich tatsächlich mehr Leben retten zu können, «in Luft aufgelöst».
Schädliche Überbehandlungen
Es würden zwar einige der Teilnehmenden weniger an Brustkrebs sterben, aber sie lebten im Schnitt wohl nicht länger als Frauen, die nicht teilnehmen: «Möglicherweise tötet sie ein anderer Krebs oder ein Herzinfarkt, verursacht durch eben die Behandlung eines Brustkrebses, der ihnen nicht gefährlich geworden oder ohne Früherkennung niemals im Leben entdeckt worden wäre.»
Auch die Schweizer Krebsliga stellt in ihrem neuen «Faktenblatt Mammografie-Screening» fest, dass pro Frau, die gerettet wird, vier Frauen mit Diagnose Brustkrebs unnötig behandelt werden.
Der Nutzen des Screenings sei «erschreckend» gering, schreibt der «Spiegel»: «Von 2000 Frauen, die zehn Jahre lang regelmässig zur Früherkennung gehen, stirbt eine einzige Frau weniger an Brustkrebs als ohne Screening». Der Spiegel stützt sich u.a. auf den Wissenschaftler Peter Gøtzsche, der alle verfügbaren randomisiert-kontrollierten Studien ausgewertet hat.
Eine andere Auswertung der Cochrane-Daten für über 50-jährige Frauen sei zum Ergebnis gekommen, dass durch die Früherkennung im Zeitraum von zehn Jahren eine von 1000 weniger an Brustkrebs stirbt. Auf diese Zahl stützt sich die Schweizer Krebsliga. Es sei dabei aber auch herausgekommen, dass in der Screening-Gruppe genauso viele Frauen durch irgendeinen Krebs sterben wie in der nicht mammografierten Gruppe. Das heisse: Diese eine Frau von 1000, die durch die Mammografie zwar nicht an Brustkrebs stirbt, rafft, statistisch gesehen, ein anderer Krebs dahin.
Einige Befürwortende haben ihre Meinung korrigiert
Der deutsche SPD-Gesundheitspolitiker Professor Karl Lauterbach hatte die frühere SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt überzeugt, das Screening in Deutschland flächendeckend einzuführen, was im Jahr 2002 geschah. Heute erklärt Lauterbach im «Spiegel»: «Alle neuen Erkenntnisse sprechen in der Tendenz eher gegen das Screening.»
Professorin Ingrid Mühlhauser vom «Netzwerk Evidenzbasierte Medizin» verlangt schon lange eine Debatte darüber, «ob das Screening gestoppt werden soll». Unterdessen ist laut «Spiegel» auch Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Deutschen Ärztekammer, der Meinung, dass man den flächendeckende Brustkrebs-Check überprüfen müsse.
Selbst der oberste Mediziner der US-Krebsgesellschaft, Otis Brawley, gehe inzwischen auf Distanz zur Mammografie, ebenso die landesweite US-Koalition gegen Brustkrebs NBCC.
In Norwegen habe sich die Ärztin und Wissenschaftlerin Mette Kalager, die dort von 2004 bis 2006 das nationale Screening-Programm leitete, zu einer scharfen Kritikerin der Brustkrebs-Früherkennung entwickelt.
In vielen Ländern sei die Sterblichkeit an Brustkrebs zurückgegangen, was die Screening-Anhänger vorschnell vor allem auf das Screening zurückführten, sagt Kalager. Tatsächlich aber sei der Rückgang der Brustkrebs-Sterblichkeit «vielen andere Faktoren» zu verdanken. Vor allem bessere Therapien, namentlich Medikamente, hätten einen wesentlichen Beitrag geleistet. «Wir sollten nicht mehr alle Frauen screenen.»
Weshalb fast niemand warnt
Im vergangenen Jahr habe der britische Experte Michael Baum im «British Medical Journal» geschätzt, dass von rund 3000 50- bis 70-jährigen Screening-Teilnehmerinnen eine weniger an Brustkrebs stirbt – dafür jedoch könnten ein bis drei Frauen zusätzlich durch Herzinfarkt oder Lungenkrebs sterben.
«Warum führen solche Ergebnisse zu keinem Aufschrei?», fragt der «Spiegel». Die Antwort sei einfach: Keine Frau, die bei der Früherkennung die Diagnose Brustkrebs erhält, werde jemals erfahren, ob sie eine der ganz wenigen ist, der das Screening das Leben rettet, oder ob sie zu den Frauen gehört, die an den Folgen einer überflüssigen Brustkrebstherapie sterben wird.
Aus diesem Grund werde keine Betroffene je einen Arzt verklagen (können). Und Ärzte können erzählen, dass jede Frau, bei der sie einen Brustkrebs frühzeitig erkennen, darüber sehr froh sei.
Über den geringen Nutzen und das Risiko von Überbehandlungen sind die Frauen noch heute miserabel informiert.
Gerd Gigerenzer, Leiter des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, beschäftigt sich seit Jahren damit, so sagt er selbstironisch im «Spiegel», «wie man Frauen in die Irre führt»
Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat Professor Gerd Gigerenzer in neun europäischen Ländern mehr als 10’000 Menschen über den Nutzen des Mammografie-Screenings befragt. Das Resultat: «98 Prozent der Frauen in Deutschland überschätzen den Nutzen um das Zehnfache, das Hundertfache oder sogar Zweihundertfache.» In Merkblättern, welche Frauen in Deutschland zusammen mit der Einladung zum Screening erhalten, würde sogar behauptet, dass «1 von 200 Frauen dank ihrer regelmässigen Teilnahme vor dem Tod durch Brustkrebs bewahrt» werde. «Das ist so weit von der Wahrheit entfernt, dass ich nur lachen kann», meint Professor Peter Gøtzsche im «Spiegel».
«Die meisten Frauen überschätzen den Nutzen des Mammografie-Screenings massiv», sagt die Hamburger Medizinerin Ingrid Mühlhauser, deren Spezialgebiet die angemessene und verständliche Wissensvermittlung ist. Schon das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken und zu versterben, werde «grotesk überschätzt», so Mühlhauser im «Spiegel». Rund 60 Prozent der Frauen würden zudem fälschlicherweise glauben, dass sie durch die Teilnahme am Screening Brustkrebs verhindern können. Kampagnen zur Krebsfrüherkennung hätten «unnötige Angst geschürt und zu Täuschungen und Trugschlüssen geführt».
Keine Angaben über Häufigkeit von Überbehandlungen und falschen Mammografie-Interpretationen
In der Schweiz ist die Information der Frauen ähnlich irreführend. In etlichen Kantonen, die ein Screening-Programm eingeführt haben, wird mit der Einladung eine Informations-Broschüre verschickt, die den Nutzen übertreibt und die Nachteile wie Überbehandlungen und falsche Erstbefunde nicht quantifiziert. Mit solchen Informationen können Frauen gar keinen informierten persönlichen Entscheid über eine Teilnahme fällen.
Geld an der falschen Stelle ausgegeben?
«Was kann die Politik tun, wenn die Wissenschaft feststellt, dass die Mammografie nichts bringt?», fragt der «Spiegel». Ein Gesundheitspolitiker, berichtet Jürgen Windeler, Chef des deutschen «Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen» IQWiG, habe ihm kürzlich gesagt: «Wenn wir die Mammografie abschaffen, würde das ja bedeuten, dass wir über Jahre hinweg das Geld an der falschen Stelle ausgegeben haben.» Diesen Eindruck, vermutet Windeler, möchte niemand erwecken.
Kein Zurück zum unorganisierten Screening
Niemand wolle zurück zu den Verhältnissen vor der Einführung des flächendeckenden Programms: dem unsystematischen, sogenannten grauen oder opportunistischen Screening ohne Qualitätskontrolle. Bei diesen ist der Nutzen noch kleiner und der Schaden noch grösser. Die Krebsligen in der Schweiz zieren sich allerdings, den Frauen vom Screening ausserhalb von Programmen klar und deutlich abzuraten.
Vielleicht müsse man sich vom organisierten Massenscreening verabschieden, erklärt Windeler im «Spiegel», und Frauen vielmehr in verschiedene Risikogruppen einteilen. Dann könnten zum Beispiel Kandidatinnen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko überprüft und die ohne solche Vorbelastung in Ruhe gelassen werden.
Rita Schmutzler, Leiterin des Kölner Zentrums für Familiären Brust- und Eierstockkrebs und weltweit eine der führenden Expertinnen auf diesem Gebiet, hält es laut «Spiegel» für «sehr wahrscheinlich», dass in absehbarer Zukunft das genetische Profil noch viel genauer Auskunft über das individuelle Brustkrebsrisiko einer Frau geben wird.
—
Siehe
- «Brustkrebs-Diagnose: Wie sag ich’s der Patientin?» FrauenSicht vom 18.10.2013
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine