In Schweden gelten Prostituierte als Menschen, die sexueller Gewalt ausgeliefert sind. In der Schweiz gelten sie als normale Erwerbstätige. © stuttgart-sagt-stopp.de

«Die Beweislast liegt bei der Frau»

fs /  In der Schweiz ist Prostitution eine legale Erwerbsarbeit. Das hat fatale Konsequenzen für Frauen, die sich gegen ihren Willen prostituieren müssen.

Die Polizisten Patrick Suter aus der Schweiz und Simon Häggström aus Schweden ermitteln in ihren Heimatländern im Rotlichtmilieu. Ein Gespräch, das die «Neue Zürcher Zeitung» protokolliert hat, zeigt (Bezahlschranke): Dem Schweizer sind oft die Hände gebunden, wenn es um die grosse Mehrheit der Frauen geht, die sich nicht «freiwillig» prostituieren. Grund dafür ist, dass Prostituierte in der Schweiz als Erwerbstätige gelten. In Schweden hingegen gelten Prostituierte als Menschen, die sexueller Gewalt ausgeliefert sind. Der Kauf von Sex ist seit 1999 verboten. Bestraft werden die Freier. 

Zwangsprostituierte müssen Anzeige erstatten
Eine Frau, die sich in der Schweiz gegen ihren Willen prostituiert, muss selber Anzeige erstatten und Beweise gegen ihren Peiniger vorlegen. Der Schweizer Polizist Patrick Suter sagt: «Im Menschenhandel gibt es keine Sachbeweise. Das ist anders als bei Drogendelikten, wo man konfiszierte illegale Substanzen hat, die das Delikt beweisen. Wenn jemand in der Sexarbeit ausgebeutet wird, dann ist das einzige Beweismittel die Aussage der Prostituierten. Die ganze Beweislast liegt bei der Frau. Das ist ein Problem, das will ich nicht schönreden.» Laut Simon Häggström passiert es nie, dass eine Frau bei der Polizei auftaucht und sagt: «Mein Zuhälter beutet mich aus, ich bin ein Opfer von Menschenhandel, bitte helft mir!» Betroffene Frauen sprechen meist weder eine Landessprache noch kennen sie ihre Rechte. Zudem werden viele von ihnen mit Gewalt und Drohungen gegen sie oder ihre Familienmitglieder im Heimatland unter Druck gesetzt. 

Unterschiede im Verdachtsfall
In Schweden ist die Polizei nicht auf die Aussagen Betroffener angewiesen, um in Fällen von Zwangsprostitution zu ermitteln. Im Verdachtsfall kann sie beispielsweise Handys konfiszieren und auswerten. Häggström: «Ein Anfangsverdacht reicht dafür aus.» 
Suter sagt, dies sei in der Schweiz nicht möglich: «Nach Schweizer Gesetz können wir nichts dergleichen machen, solange die Frau nicht explizit festhält: Ich habe ein Problem und will gar nicht in der Prostitution arbeiten, oder: Dieser Mann neben mir kontrolliert mich und nimmt einen Teil meiner Einnahmen. Natürlich bleibt ein Verdacht. Aber das reicht nicht aus, um ein Strafverfahren zu eröffnen. Wir dürfen nicht Kommunikationsmittel konfiszieren oder die Wohnung des Mannes durchsuchen. Und ohne diese Zwangsmassnahmen ist es eigentlich unmöglich, einen Zuhälter oder gar einen Menschenhändler zu verurteilen.»

«Abzocke» statt «Ausbeutung»
Unterschiedlich beurteilten Schweden und die Schweiz auch die Situation von Ausländerinnen, die sich wegen der Armut im Herkunftsland prostituieren. Sie sprechen meist keine Landessprache und sind deshalb auf «Vermittler» angewiesen, denen sie oft die Hälfte ihres Einkommens abgeben müssen. In Schweden gilt dies als Ausbeutung, wie Häggström erklärt: «Wir betrachten das als eine Ausnutzung der Lage einer Frau, die sich prostituieren muss, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie zu bestreiten.» Für den Schweizer Suter hingegen ist dies keine Förderung der Prostitution, sondern «Abzocke» der Frauen: «Wir gehen davon aus, dass sie dem Businessmodell zugestimmt hat und weiss, dass sie 50 Prozent ihres Einkommens an den Vermittler abgeben muss. Sie hätte die freie Wahl, selbstständig zu arbeiten. Aber in der Regel kommen die Frauen in die Schweiz und stehen vor dem Nichts – sie können keine Miete bezahlen für ein Zimmer, um ihre Tätigkeit ausüben zu können. Also nehmen sie Hilfe bei der Vermittlung an. Viele Frauen machen das seit über zehn Jahren so und scheinen zufrieden damit.»

Hinkender Vergleich mit Handwerkern
Häggström sagt, wenn jemand von einer Frau 50 Prozent ihres Verdienstes verlangt, um ihr dabei zu helfen, sich zu prostituieren, sei das Ausbeutung. «Wenn sie das seit zehn Jahren macht und längst wüsste, dass sie das auch eigenständig machen könnte: Warum löst sie sich dann nicht von diesem ‘Vermittler’, den wir als Zuhälter bezeichnen würden?» Suter entgegnet: «Weil es für sie schlichtweg normal scheint: Jedes Temporärbüro nimmt zwischen 30 und 40 Prozent Provision für die Vermittlung von Arbeitskräften. Oder nehmen Sie Handwerker: Der Chef verrechnet dem Kunden 150 Franken pro Stunde für die Arbeit, der ausführende Handwerker bekommt davon aber nur 30 Franken.» Häggström: «Womit wir beim Kern der Sache angelangt sind. Die Schweiz betrachtet Prostitution als einen Job wie jeden anderen auch. Sie vergleichen Frauen und Männer, die ihren Körper unter grossen Risiken Fremden anbieten, mit normalen Handwerkern. In Schweden betrachten wir diese Prostituierten als Menschen, die sexueller Gewalt ausgeliefert sind.»

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