«Prostitution ist eine humanitäre Katastrophe»
Mit Anfang 22 Jahren steckte Anna Schreiber finanziell in der Klemme. Sie prostituierte sich während zwei Jahren, um sich und ihre kleine Tochter durchzubringen. Durch eine «Liebesbegegnung» schaffte sie den Ausstieg. Danach brauchte sie viele Jahre, um das Erlebte zu verarbeiten. Schliesslich studierte sie Psychologie und eröffnete gut zwanzig Jahre nach ihrem Ausstieg aus der Prostitution 2008 eine eigene Praxis in Karlsruhe. Letztes Jahr ging sie mit dem Buch «Körper sucht Seele» an die Öffentlichkeit.
Freiwillige Prostitution ist «Märchen»
Aus der Doppelperspektive der Betroffenen und der Therapeutin kritisiert Schreiber die Normalisierung der Prostitution als Beruf wie jeder andere. «Freiwillige» Prostitution sei ein «Märchen». Die meisten Prostituierten seien Zwangsprostituierte. Für die anderen seien vor allem finanzielle Gründe ausschlaggebend: «Viele Frauen verkaufen ihren Körper, damit ihre Kinder oder ihre Familien in einem anderen Land nicht verhungern. Das ist eine humanitäre Katastrophe», sagte Schreiber in der «SonntagsZeitung». Dank der Normalisierung können Freier dieses Leid ausblenden. «Und so geht vergessen, wie brutal es ist, einen anderen Körper für die eigene sexuelle Befriedigung zu benutzen, lieblos, seelenlos, völlig unpersönlich und austauschbar.» Käuflicher Sex sei nie einvernehmlich, sondern mit Geld kaschierte Gewalt. «Und wenn mehr Geld im Spiel ist, ist die Gewalt besser kaschiert. Aber Gewalt ist es in jedem Fall.»
«Ich glaubte selber, das zu wollen»
Schreiber selber war in der Kindheit Opfer eines Übergriffs. Dabei habe sie lernen müssen, Gefühle und Körperwahrnehmung auszublenden. Als sie das erste Mal ihren Körper verkaufte, habe sich das zwar fundamental falsch angefühlt. Doch ihre Seele habe das Falsch-Gefühl, Ekel und Schmerz ausgeblendet. «So machte ich mich passend, war aber völlig getrennt von meinem inneren Erleben.» Sie habe damals gedacht, sich freiwillig zu prostituieren. «Ich glaubte selber, das zu wollen, was ich tat, weil ich schon abgespalten war von meinen Gefühlen und meiner Körperwahrnehmung. Ich spürte die Verletzungen und Wunden nicht mehr und verstand noch gar nicht richtig, was ich tat.»
«Triebabfuhr statt Erfüllung»
Für Schreiber ist es wichtig zu verstehen, weshalb Männer zu Prostituierten gehen. Viele könnten ihre Wünsche und Fantasien nicht mitteilen, andere fühlten sich zurückgewiesen. Wenn sie dann zu Prostituierten gehen, fänden sie statt Erfüllung lediglich Triebabfuhr. «Die hohe Dosis an herzlosem Sex bringt den Mangel nicht zum Verschwinden, sondern verstärkt die Suche und erschwert zunehmend, dem Gegenüber auf der Herzebene zu begegnen.»
Prostitution abschaffen wie Sklaverei
Prostitution habe grosse Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und hinterlasse bei vielen lebenslange Spuren, sagt Schreiber. Sie plädiert deshalb für ein Verbot. Auch die Abschaffung der Sklaverei sei seinerzeit lange undenkbar gewesen. Als erste Staaten sie verboten, sei ein Prozess in Gang gekommen, der den gesellschaftlichen Konsens verändert habe. Das erhofft sich Schreiber auch bezüglich Prostitution. «Wir haben die Pflicht, genau hinzusehen und uns klar zu machen, mit wie unendlich viel Leid, Scham und Gewalt sie verbunden ist.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine