«Schweizer»: Frauen waren nicht mitgemeint
René Scheu, Feuilleton-Chef der konservativen «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ), kritisierte kürzlich in einem seitenlangen Artikel die «Sexualisierung der Sprache von oben». Anlass war der Entscheid des Parlamentsbüros der Stadt Zürich. Dieses hatte einen Vorstoss der konservativen SVP-Abgeordneten Susanne Brunner zweimal abgewiesen, weil er männlich formuliert war. Das Stadtparlament hat diesem Entscheid mittlerweile zugestimmt. Scheu interpretiert dies als Kapitulation «vor dem Diktat der politischen Korrektheit», das ein «bis heute einflussreicher Radikalfeminismus» propagiere.
«Machtpolitik im Dienste der eigenen Agenda»
Mit der Doppelnennung von Frauen und Männern finde eine Sexualisierung der Lebenswelt statt, «als würde das Geschlecht in allen menschlichen Angelegenheiten eine primäre Rolle spielen». Doch das sprachliche habe mit dem biologischen Geschlecht nichts zu tun: «’Der› Käse ist nicht männlich, ‹die› Milch nicht weiblich, ‹das› Kind nicht sächlich.» Wer die Sprache per Dekret verbiege, betreibe «Machtpolitik im Dienste der eigenen Agenda», schreibt Scheu. Er plädiert für das generische Maskulinum, das Frauen mit meint. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass gerade der Gebrauch dieser angeblich neutralen Sprachform viel mit Macht zu tun hat.
Frauen sind keine «Schweizer»
1886 wollte die erste Juristin Emilie Kempin-Spyri vor einem Zürcher Zivilgericht ihren Ehmann als Anwältin vertreten. Das Gericht lehnte sie ab, weil ihr «das Aktivbürgerrecht fehlt». Die Anwältin beschwerte sich darauf beim Bundesgericht, in dem sie sich auf Artikel 4 der damaligen Bundesverfassung berief: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich». Doch das Höchstgericht urteilte 1887, dass mit «Schweizer» in der Verfassung mal nur Männer und mal Männer und Frauen gemeint sind. In Artikel 4 seien «Schweizer» nur Männer. Emilie Kempin-Spyri durfte also nicht als Anwältin vor Gericht. Seither sind solche Macht-Mechanismen hinter der Sprache ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Aus «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich» ist in der revidierten Bundesverfassung von 1999 geworden: «Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich.» So einfach geht geschlechtergerechte Sprache.
Alte Taktik
Vorschläge für eine geschlechtergerechte Sprache als unvernünftig und unlogisch zu disqualifizieren und mit seltsamen Beispielen lächerlich zu machen, wie es Scheu tut, ist eine alte Taktik, um Forderungen von Frauen abzuservieren. Es gilt längst als wissenschaftlich erwiesen, dass bei einem männlichen Begriff wie Lehrer vor dem inneren Auge ein Mann erscheint. Eine geschlechtergerechte Sprache schafft Klarheit und macht Frauen sichtbar. Doch darum geht es Scheu nicht. Es geht ihm um «Machtpolitik im Dienste der eigenen Agenda», wie er selber schreibt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine