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NZZ-Schlagzeile auf Seite 2 vom 5. August 2022. © NZZ

Das «Königreich der Frauen» ist eine Illusion

Urs P. Gasche /  Die NZZ lobte die «Reformen» in Saudi-Arabien: Frauen dürften «wieder Firmen führen und in Bands spielen.» Doch sie bleiben bevormundet.

Am 5. August schwärmte Reporter Daniel Böhm in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) eine ganze Seite lang über Reformen, von denen «vor allem die Frauen profitieren» würden. Saudi-Arabien sei heute sogar «das Königreich der Frauen», verkündete der fünfspaltige Titel, den die NZZ-Redaktion über den Artikel setzte.

Angeblich Bruch mit alten Regeln
Den NZZ-Podcast dazu übertitelte die NZZ: «‹Die gesamte Gesellschaft wird auf den Kopf gestellt!› Zum ersten Mal seit fünf Jahren besucht unser Reporter Saudi-Arabien – und traut seinen Augen nicht.» Das Land habe sich «radikal verändert».

Der «junge Kronprinz» habe «mit den alten Regeln gebrochen». Also angeblich mit allen alten Regeln. Er habe «den Frauen endlich erlaubt, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Also angeblich allen Frauen. «Die jungen Saudi-Araberinnen geniessen die neu gewonnenen Freiheiten». Also angeblich alle jungen Frauen. 

Schön wäre es, wenn jetzt alle die neu gewonnenen Freiheiten geniessen dürften. 

Euphorisch fuhrt die NZZ fort, das Vormundschaftsgesetz sei «abgeschafft». Offensichtlich nahm sich der NZZ-Reporter nicht einmal die Mühe, die von Machthaber bin Salman erlassenen neuen Gesetze zu lesen. 

«Die sozialen Reformen sind längst nicht das, was sie zu sein scheinen»
Es ist zwar richtig und begrüssenswert, dass sich Frauen ohne Einverständnis eines Mannes ans Steuer eines Autos setzen können, ein Restaurant, Café oder Kino besuchen, reisen und den Mann heiraten dürfen, den sie möchten. Die gefürchtete Sittenpolizei darf Frauen nicht mehr daran hindern.

Doch was der NZZ-Reporter unterschlug: Von diesen fundamentalen Freiheiten können längst nicht alle Frauen in Saudi-Arabien profitieren. Das einschlägige neue Vormundschaftsgesetz ist auf der Webseite der Regierung auf Arabisch veröffentlicht. Die langjährige Kriegs-KorrespondentinMegan K. Stack hat die saudischen Gesetzestexte studiert und kam in der New York Times zum Schluss: «Der Westen macht sich etwas vor: Die sozialen Reformen sind längst nicht das, was sie zu sein scheinen.» Denn das Gesetz erteile – in dieser Reihenfolge – Vätern, Ehemännern, Onkeln, Brüdern und Söhnen weiterhin das paternalistische Vormundschaftsrecht und damit die Befehlsgewalt über die Frauen. Das betreffe weiterhin das Autofahren, Ausgehen und Heiraten. Das Gesetz lege weiterhin fest, dass Ehemänner von ihren Ehefrauen Gehorsam verlangen können. 

Neu sei nur, dass die Männer den Frauen, die unter ihrer Aufsicht stehen, die neuen Freiheiten gewähren dürfen und weder der Staat noch die Sittenpolizei sie daran hindern können, wie dies vorher der Fall war. 

Frauen bleiben bevormundet
Eine Frau also, die in einen liberal denkenden Familienclan geboren werde oder einen fortschrittlich denkenden Mann heiraten könne, habe das Glück, mit dem Segen der Männer von den neuen Freiheiten zu profitieren. Eine Frau dagegen, welche in eine traditionelle Familienstruktur geboren werde, habe keine Chance. Wenn ihr Vater oder Ehemann nicht will, dass sie die Fahrprüfung macht und Auto fährt, muss sie sich diesem Verbot unterziehen. Gegen den Willen ihres männlichen Vormunds dürfen Frauen auch keinen Mann heiraten. Die betroffenen Frauen würden diesen Männern ausgeliefert bleiben und keine Behörde werde ihnen helfen.

«Frauen, die Pech haben und von ihren Männern bevormundet werden, können von den gesellschaftlichen Öffnungen nicht profitieren», erklärte die saudische Frauen-Aktivistin Hala Aldosari der New York Times. Es handle sich dabei um die Mehrheit der Frauen im 30-Millionen-Einwohner-Land, die in konservativen Familienverbünden leben, welche grundlegende Menschenrechte der Frauen nicht respektieren.

«Das Königreich der Frauen», wie die NZZ titelte? Wohl kaum. 

Erst in den letzten beiden Absätzen seines langen Artikels räumte Daniel Böhm ein, dass Politik, Religion und Nacktheit in Saudi-Arabien weiterhin Tabuthemen seien. Auch erwähnte er noch die Einbuchtung von liberalen Aktivistinnen wie der Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul, die 2018 lediglich das Recht eingefordert habe, Auto zu fahren.

Freiheiten könne man eben in Saudi-Arabien nicht einfordern, meinte der NZZ-Reporter. Sie seien ein Privileg, das der Staat gewährt.

Es gilt hinzuzufügen: Grundlegende Freiheiten für Frauen sind weiterhin ein Privileg, das nur Männer gewähren können. Denn Frauen haben rechtlich nach wie vor den Status von Unmündigen.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf infosperber.ch.

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