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Der damalige US-Präsident Trump ignorierte 2017 Angela Merkel, was diese sichtlich irritierte. © CNN

Die verpasste Lektion in praktischer Gleichstellung

fs /  «Sofa-Gate» kam wohl vielen Frauen bekannt vor: Auf eine Demütigung durch einen Mann reagieren sie nicht angemessen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ins Abseits auf ein Sofa. Den Platz neben dem Gastgeber nahm EU-Ratspräsident Charles Michel ein. Auf die öffentliche Herabwürdigung reagierte von der Leyen mit einem verdutzten «Ähhmmm». Dazu hob sie die Arme, war sichtbar überrascht, rat- und sprachlos. Später sagte sie, dass sie die Gespräche mit der Türkei wegen ihrer Demütigung nicht habe beeinträchtigen wollen. Eine solche Behandlung werde sie aber nie mehr akzeptieren.

Gute Miene zum bösen Spiel
Vielen Frauen kommt diese Situation bekannt vor. Männer demütigen sie, um Frauen auf ihre untergeordnete Stellung zu verweisen. Mittel gibt es viele: Männer weisen Frauen einen schlechteren Platz zu, unterbrechen sie, erklären ihnen die Welt und putzen sie herunter. Die Frauen sind überrumpelt und entscheiden sich dann oft aus sachlichen Gründen, die Demütigung zu schlucken und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Später ärgern sie sich, nicht anders reagiert zu haben.

EU-Ratspräsident spielte mit
Zum türkischen Präsidenten und seiner frauenfeindlichen Politik passt das patriarchale Gehabe. Mitgemacht hat aber auch EU-Ratspräsident Charles Michel. Er hatte vier Optionen: Von der Leyen seinen Stuhl anbieten, einen weiteren Stuhl fordern oder sich neben von der Leyen aufs Sofa setzen. Er wählte die vierte und schwieg. Damit demütigte auch er seine EU-Kollegin und er verpasste die Gelegenheit, dem Patriarchen Erdoğan eine Lektion in praktischer Gleichstellung zu erteilen. Die Wirkung wäre vermutlich grösser gewesen, als die verbale Kritik am Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalttaten von Männern schützen soll.

Diskriminierung aufgrund des Geschlechts
Doch Michel liess es zu, dass die Chefin einer europäischen Institution diskriminiert wird, weil sie eine Frau ist. «Das ‘Wir’ waren nicht er und sie, mit der er auf Reise gegangen war, sondern er und der andere mächtige Mann im Raum», schrieb die frühere grüne EU-Abgeordnete Ulrike Lunacek im «Standard». Michel schwieg lange und schob die Schuld dann auf Protokollregeln, gegen die er machtlos gewesen sei. Sein Verhalten sei eines EU-Ratspräsidenten unwürdig, der europäische Werte vertreten müsse, kritisierten EU-Abgeordnete. Die grüne Saskia Bricmont sagte: «Wir erwarten von EU-Repräsentanten, dass sie für Frauenrechte eintreten.» Die Fraktionsvorsitzenden im EU-Parlament befragten von der Leyen und Michel in einer Anhörung, was der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und andere für übertrieben hielten.

«Ich wäre wohl auch geblieben»
Doch «Sofa-Gate» ist wichtig, weil es um Grundsätzliches geht. Es gibt gerade in der Politik unzählige Beispiele, wie Männer Frauen herabwürdigen, um einen Führungsanspruch zu demonstrieren. Beispiel Angela Merkel: 2007 brachte der russische Präsident Wladimir Putin seinen Labrador zu einem Treffen mit der deutschen Kanzlerin in Sotschi mit, obwohl er wusste, dass sie Angst vor Hunden hat. Merkel beäugte das Tier skeptisch, während Putin grinste. 2015 kanzelte Horst Seehofer auf dem CSU-Parteitag Angela Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik ab und liess sie währenddessen 13 Minuten wie ein Schulmädchen neben sich stehen. 2017 verweigerte der damalige US-Präsident Donald Trump Angela Merkel demonstrativ den Handschlag, worauf diese verdutzt und sprachlos reagierte. Dieser Affront fiel umso mehr auf, als Donald Trump bei früheren Staatsbesuchen im gleichen Raum die Hände männlicher Amtskollegen sekundenlang schüttelte.

Für Frauen sei es nicht immer leicht, angemessen auf eine Demütigung zu reagieren, schreibt Lunacek. Sie habe ähnliche Herabsetzungen wie von der Leyen erlebt und sich gefragt, wie sie reagiert hätte. «Wahrscheinlich hätte ich Michel aufgefordert, aufzustehen und Erdoğan um die Herbeischaffung eines dritten Sessels zu ersuchen. Oder hätte es Erdoğan selbst gesagt. Bei Nichtgelingen wäre ich aber wohl auch geblieben.»


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