«Merkel musste immer pragmatisch sein»
In Deutschland hat sich Angela Merkel kürzlich während einer öffentlichen Gesprächsrunde als Feministin bezeichnet und in männlicher Form später hinzugefügt: «Wir sollten alle Feministen sein.» Das erstaunte viele, denn vor vier Jahren hatte sie noch um eine klare Antwort auf diese Frage gerungen.
Grosser Widerstand in patriarchaler Partei
Merkel machte früh in ihrer Karriere die Erfahrung, wie gross der Widerstand in ihrer eigenen Fraktion gegen Frauen und gegen Frauenpolitik ist. Als sie 1993 in ihrer Funktion als Bundesfrauenministerin eine zaghafte Reform des Gleichberechtigungsgesetzes vorschlug, sagte der damalige CSU-Entwicklungshilfeminister Carl-Dieter Spranger laut «Spiegel» herablassend: «Wissen Sie, Mädel, wenn ich Sie nicht so nett fände, würde ich ja für diesen Stuss gar nicht stimmen». Weiter berichtete der «Spiegel» damals, dass Merkel-Unterstützerinnen in der Fraktion Machosprüche hörten wie «Frauen sind doch schliesslich reine Lustobjekte« und «bald seid ihr überflüssig, wenn die Kinder aus der Retorte kommen».
Merkels Machtanspruch
Als Merkel 2002 erstmals Kanzlerkandidatin der Union werden wollte, bevorzugten die Männer Edmund Stoiber (CSU). «Man hat ihr das nicht zugetraut und ihr die Kanzlerkandidatur verwehrt», sagte CSU-Politikerin Barbara Stamm kürzlich der «Augsburger Allgemeinen». Merkel sei mit Geduld und Pragmatismus ihren Weg in der stark männlich dominierten Partei weiter gegangen, ohne den Machtanspruch aufzugeben. «Komischerweise wurde das viel kritischer betrachtet, als das bei einem Mann der Fall gewesen wäre», sagt Stamm heute. «Aber ohne diesen Machtanspruch kann man in einer politisch verantwortlichen Position nicht bestehen.» Für Stamm ist Merkel eine Feministin. Sie habe sich zwar nie lautstark für Frauen eingesetzt, sei aber als Kanzlerin automatisch für alle ein Vorbild gewesen.
Schwarzers Verständnis
Ihr Frausein machte Merkel nie zum Thema. Alice Schwarzer schrieb in ihrem Buch «Lebenswerk», das letztes Jahr erschien, sie sei früher enttäuscht gewesen, dass Merkel sich nie als Feministin bezeichnet und die Konfrontation mit den konservativen Männern in ihrer Partei gescheut habe. Mittlerweile habe sie Verständnis: «Es ist schon Provokation genug, dass ´Kohls Mädchen´nun Kohls Erbin geworden ist. Nicht nur Friedrich Merz knirscht mit den Zähnen.»
Politik der kleinen Schritte
Politikwissenschaftlerin Joyce Mushaben verfolgte die Karriere von Merkel seit 1990 und hat 2017 ein Buch über sie veröffentlicht. In einem Interview mit der «Deutschen Welle» sagte sie kürzlich, Merkel sei ohne politische Erfahrung 1991 Frauenministerin geworden und sei von Anfang an mit dem Widerstand der konservativen «Hardliner» in CDU und CSU konfrontiert gewesen. Als Frauenministerin habe sie rasch erkannt, dass mit Frauenpolitik viele Ressentiments verbunden sind. Aus diesen Gründen habe sie eine Politik der kleinen Schritte bevorzugt. Ministerinnen wie Ursula von der Leyen liess sie Vorschläge machen, die für Konservative radikal waren. Später wurden diese mit Abstrichen dann trotzdem Gesetz. Ihre Ministerinnen unterstützten Merkel und Merkel sie. Doch «ein Weltwunder konnte sie nicht zustande bringen», sagte Mushaben. Eine weitergehende Frauenpolitik wäre wegen des innerparteilichen Widerstandes und Krisen wie der Eurokrise kaum realisierbar gewesen.