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«Vergewaltigungskultur» (Rape Culture): Übergriffe werden toleriert, verharmlost und damit normalisiert. © cc

Rammstein ist überall

fs /  Junge Frauen machen Übergriffe öffentlich. Doch statt sie ernst zu nehmen, zweifelt man zuerst an ihrer Glaubwürdigkeit – ein Ausdruck patriarchaler Kultur.

Die Irin Shelby Lynn wirft Till Lindemann, Sänger der deutschen Rockband Rammstein vor, sie anlässlich eines Konzertes unter Drogen gesetzt und dann misshandelt zu haben. Auf ihre Weigerung, in einer Konzertpause Sex mit ihm zu haben, habe der 60-Jährige aggressiv reagiert. Am nächsten Tag sei sie allein, mit blauen Flecken am ganzen Körper und lückenhaften Erinnerungen in einem Hotel aufgewacht. Lynn vermutet, dass ihr jemand K.-o.-Tropfen in das offerierte Getränk gemischt hat. Lindemann und die Band bestreiten die Vorwürfe. Es gilt die Unschuldsvermutung. 

«Ich habe nichts zu verbergen»
Der Anwalt von Lindemann warf Shelby rasch vor zu lügen und drohte mit rechtlichen Schritten. Doch diese lässt sich nicht zum Schweigen bringen: «Macht mich bankrott. Ist mir egal», sagte sie Reporterinnen der «Süddeutschen Zeitung» und des Senders NDR. «Bringt mich vor Gericht. Ich habe keine Angst. Sie haben viel zu verlieren und eine Menge zu verbergen. Ich habe nichts zu verbergen.» Mittlerweile haben weitere Frauen von fehlenden Erinnerungen und möglichen Grenzüberschreitungen des Rockstars berichtet. Ihre Berichte lassen vermuten, dass Lindemann ein System etabliert hat, um junge Frauen für Sex zu casten und sie mit Substanzen in Getränken gefügig zu machen. Konsequenzen gab es bisher einzig für eine Frau: Die Band hat sich von Alena Makeeva getrennt, die als «Casting Director» von Rammstein junge Frauen für Lindemann gecastet, angesprochen und dem Sänger zugeführt haben soll. 

Sie brauche einen «echten» Mann
Luc Bezençon (FDP) ist Abgeordneter im Parlament des Kantons Waadt in der Schweiz. Mehrere Ratskolleginnen werfen ihm verbale Grenzüberschreitungen und unerwünschte Berührungen bei Anlässen ausserhalb des Parlamentes vor, berichtete «24 Heures». Der 69-Jährige soll beispielsweise Elodie Lopez von der Linkspartei gefragt haben, ob sie einen Freund oder Ehemann habe. Sie brauche einen «echten» Mann und sollte von einem «bürgerlichen Mann dressiert werden». Bezençon wies die Vorwürfe zurück, sprach von Verleumdung und drohte mit einer Strafanzeige, falls Lopez sich nicht entschuldigt. Doch weitere Parlamentarierinnen berichteten in den Medien von Grenzüberschreitungen durch Bezençon und andere männliche Parlamentsmitglieder. Bezençon zeigte in einer persönlichen Erklärung später keine Einsicht und warf den Frauen indirekt vor, zu lügen und empfindlich zu sein: «Wenn ich durch Äusserungen, die ich angeblich gemacht habe, Empfindlichkeiten verletzt habe, tut mir dies aufrichtig leid.» Auch für ihn gilt die Unschuldsvermutung.

«Vergewaltigungskultur»
In beiden Fällen zeigen die Reaktionen der Beschuldigten und die anschliessenden Debatten in den klassischen Medien und Social Media: Auch sechs Jahre nach #MeToo wird sexualisierte Gewalt nach wie vor verharmlost, den Beschuldigten eher als den Frauen geglaubt und diesen mindestens eine Mitschuld zugeschoben. Das sind Kennzeichen der «Vergewaltigungskultur» (Rape Culture), die so alt ist wie das Patriarchat. Der Begriff beschreibt eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt toleriert, verharmlost und damit normalisiert.

Mitschuld der Opfer
Zur «Vergewaltigungskultur» gehört, dass man Anschuldigungen nicht ernst nimmt und den Opfern eine Mitschuld zuweist, weil dieses durch das eigene Verhalten zu der Straftat beigetragen hätten. Beispielsweise, weil sie freizügig gekleidet, alkoholisiert, allein unterwegs waren oder – wie im Fall von Rammstein – an einer Party teilnahmen. In Strafverfahren wirkt sich das Verhalten der Opfer oft strafmildernd aus. Für den oder die Täter kann sexualisierte Gewalt sogar folgenlos bleiben

Übergriffe gelten als normal
«Vergewaltigungskultur» meint nicht nur einschlägige Straftaten, sondern eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt herunterspielt, beispielsweise durch frauenfeindliche Witze und entwürdigende Darstellungen in Filmen, Literatur oder Musik. Auf diese Weise entsteht eine Kultur, in der man Verstösse gegen die sexuelle Selbstbestimmung als normal wahrnimmt, wie das beispielweise beim Politiker Bezençon der Fall zu sein scheint. Rammstein warf bisher kaum jemand Frauenhass vor, obwohl die Texte offenkundig frauenfeindlich sind. Wenn eine Frau auf so verachtende Weise über Männer singen würde, wäre ihr der Vorwurf des Männerhasses sicher. 

«Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst»
Den Text «Wenn du schläfst» veröffentlichte Lindemann vor drei Jahren in einem Buch. Darin beschreibt er ziemlich genau, was die Betroffenen ihm nun vorwerfen. Im «Gedicht» geht es nicht um die Darstellung dunkler Abgründe auf literarischem Niveau, sondern um Gewaltfantasien, die als literarisch gelten sollen:

Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst
Wenn du dich überhaupt nicht regst
Mund ist offen
Augen zu
Der ganze Körper ist in Ruhe
Kann dich überall anfassen
Kann mich völlig gehen lassen
Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst
Weil du alles hier versäumst
Und genauso soll es sein (so soll das sein so macht das Spass)
Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas)
Kannst dich gar nicht mehr bewegen
Und du schläfst
Es ist ein Segen

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