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Ein Wegwerf-Pessar wird wie ein Tampon eingeführt und entfernt. © srf

Inkontinenztherapie mit Pessar: «Hoher Bedarf, wenig genutzt»

Martina Frei /  Viele Frauen leiden an Beckenbodensenkung und Inkontinenz. Pessare können helfen – aber viele kennen diese Behandlung gar nicht.

Es gibt Frauen, die frühmorgens eine Urinspur auf dem Teppich hinterlassen, weil sie es nicht schnell genug aufs WC schaffen. Oder die Hemmungen haben, ihren Yoga-Kurs zu besuchen. Denn sie verlieren beim Yoga Urin. Es gibt auch Frauen, die die das Gefühl haben, «es fällt unten alles raus». Oder die ständig an Harnwegsinfekten leiden. Oder bei denen nach dem Wasserlösen noch 1500 Milliliter Urin in der überdehnten Harnblase verbleiben. Das ist viel zu viel, denn eine normale Harnblase fasst gefüllt maximal 300 bis 700 Milliliter Urin.

Für solche Frauen weiss Ruth Berner Rat. «Viele warten sehr lange, bis sie darüber sprechen, obwohl ihr Leidensdruck hoch ist», sagt die 53-jährige Fachexpertin Urotherapie. Diese Berufsbezeichnung ist ihr wichtig. «Schreiben Sie bloss nicht ‹Inkontinenzschwester› oder ‹Pessar-Tante›», warnt sie und lacht. Denn Pessare sind nur ein Element bei der Behandlung der Beckenbodensenkung – aber sie sind ein wichtiger Teil. 

Das Pessar «dichtet» die Harnröhre ab
Pessare sind meist biegsame Teile aus Silikon oder Schaumstoff in verschiedenen Formen und Grössen, die ähnlich einem Tampon in die Scheide eingeführt werden. Sie stützen den Beckenboden von innen heraus, so dass die Frau beispielsweise wieder zum Yoga gehen kann, ohne fürchten zu müssen, sie verliere dabei Urin. Denn das Pessar übt von hinten leichten Druck gegen die Harnröhre aus und «dichtet» sie so ab. «Das gibt zum Beispiel beim Bergab-Wandern mehr Sicherheit», sagt Ruth Berner und gibt der Journalistin ein tamponförmiges Modell zum Anfassen. Es fühlt sich staubtrocken, porös und hart an. Schwer vorstellbar, dass so etwas einer betroffenen Frau Linderung verschaffen soll. 

«Viel Aufklärungsarbeit»
Die Pflegefachfrau tränkt das Pessar in Wasser und wartet einige Sekunden. Plötzlich fühlt es sich weich und anschmiegsam an. «Solche Dinge muss man den Patientinnen erklären. Wir machen viel Aufklärungsarbeit», sagt Berner, die die «Interessengruppe Urotherapie Schweiz» leitet. «Manche Frauen können sich anfangs nicht vorstellen, ein Pessar anzuwenden – aber wenn sie es dann verstehen und Sicherheit gewinnen im eigenen Tun, sind sie happy.»

Die Urotherapeutin weiss von Frauen, die sieben Binden übereinander trugen, um die Wohnung verlassen zu können. Andere bastelten sich eine Art Gestell um den Unterleib, das den Gebärmuttervorfall beim Gehen verhindern sollte. Mit Hilfe eines Pessars konnten sie wieder normal arbeiten gehen. «Die Frauen sollen wieder am sozialen Leben teilnehmen können und nicht aus Scham vereinsamen.»

Als vorübergehende oder als Dauerlösung
Ein Pessar könne eine Übergangslösung bis zur Beckenboden-Operation sein – oder aber eine Dauerlösung. «Bei einer leichten Beckenbodensenkung dient es als Prophylaxe, damit die Beschwerden nicht schlimmer werden. Bei alten Frauen, für die eine Operation nicht mehr in Frage kommt, kann es die Lebensqualität erheblich verbessern», sagt Berner. «Der Leidensdruck ist oft sehr hoch.»

Indem das Pessar zum Beispiel die abgesenkte Harnblase wieder «aufstellt», kann die Frau diese wieder vollständig entleeren. So verhindert das kleine Hilfsmittel, dass sich in der Blase Restharn und Bakterien sammeln, die zur Infektionsquelle werden. Zugleich «massiere» das Pessar die Harnröhre und erschwere es damit manchen Erregern, sich dort festzusetzen. 

«Angesichts dieser effektiven und komplikationsarmen […] Therapieoption, die den Frauen oft im Alltag wieder Halt oder ihre Kontinenz zurückgibt, beklagen […] Urogynäkologinnen und Urogynäkologen regelmässig, dass hierzulande viel zu selten Pessare angepasst und verschrieben werden», berichtet ein Artikel in der Fachzeitschrift «Gynäkologie» und zitiert verschiedene Studien. Ihnen zufolge seien 75 bis über 90 Prozent der Anwenderinnen nach einer Geburt zufrieden gewesen mit dem Pessar. Bei den Pessaren gelte: «Hoher Bedarf, wenig genutzt».

Testen, welches Modell am besten passt
Nach einer Geburt kann ein Pessar dem geschwächten Beckenboden Zeit zum Heilen verschaffen und ihn entlasten. Frisch entbundene Mütter und junge Frauen sind unter den Patientinnen, die Ruth Berner aufsuchen, jedoch in der Minderheit. Das Gros sind Frauen ab 50. 

«Pessarhersteller berichten, dass sich viele Betroffene privat an sie wenden, um unterschiedliche Formen und Grössen zum Ausprobieren zu bestellen. In sozialen Medien suchen die Patientinnen über andere Betroffene nach Adressen für eine professionelle Pessaranpassung – und nehmen zum Teil lange Wege dafür in Kauf, falls sich in ihrer Region niemand findet», berichtet der Fachartikel.

Ruth Berner kann das bestätigen. Sie habe es schon erlebt, dass ein Frauenarzt einer Patientin ein Pessar einfach in die Hand drückte – ohne Instruktion, ohne Tipps. «So wird das nichts», sagt die Urotherapeutin. 

Rund eine Stunde dauere eine solche Beratung. Frauenärzte hätten dafür in der Praxis oft keine Zeit. Aber jedes Pessar müsse angepasst werden und die Anwenderin müsse verstehen, wo sie es genau platzieren sollte, damit es den gewünschten Effekt habe, erläutert Berner. «Die Frau muss auch ausprobieren, welches Modell am besten passt.» Von Internetkäufen rät die Urotherapeutin deshalb ab. 

Begleitende Massnahmen
Mit dem Pessar allein sei es zudem nicht getan. «Vor der Pessartherapie braucht es bei älteren Frauen in den meisten Fällen eine Östrogenisierung der Vagina», rät sie. Bei Frauen nach einer Brustkrebserkrankung müsse die Östrogenisierung jedoch gut mit der Ärztin oder dem Arzt besprochen werden. Lokal aufgetragenes Östrogen, das weibliche Geschlechtshormon, kräftigt die Muskulatur, das Bindegewebe sowie die Schleimhaut von Scheide, Harnröhre und Blase und bereitet diese auf das Pessar vor. Andernfalls könne es Druckschäden «wie grosse Aphthen» verursachen. «Morgens rein, abends raus», sei für die meisten Pessar-Anwenderinnen am besten.

Eine wichtige Ergänzung ist Physiotherapie (eventuell mit Biofeedback, Elektrostimulation der Muskeln oder Training auf einer Vibrationsplatte) zum Kräftigen des Beckenbodens.

Der Beckenboden

Der Beckenboden ist ein Geflecht aus Muskeln, Bändern, Nerven und Bindegewebe, das die Organe im Becken – Harnblase, Gebärmutter und Enddarm – von unten stützt. Vorangegangene Schwangerschaften und Geburten – vor allem die erste –, das Alter, genetische Faktoren, belastende Sportarten, chronischer Husten, Verstopfung und Übergewicht hinterlassen am Beckenboden Spuren. Bei Beckenbodenschäden – etwa im Zuge einer Geburt – werden die Gewebe überdehnt oder reissen gar. 

Im schlimmsten Fall kommt es danach zum teilweisen oder kompletten «Vorfall» von Teilen der Harnblase, der Gebärmutter oder des Enddarms, die sich dann vorwölben. Manche Frauen würden richtiggehend erschrecken, weil sie befürchteten, sie hätten einen Tumor. «Sie berichten, dass zum Beispiel beim Duschen oder Laufen ‹etwas herauskomme›. Das ist unangenehm und kann sehr stören», erläutert Ruth Berner.

Die Symptome einer Beckenbodensenkung: Ein unangenehmes oder sogar schmerzhaftes Druckgefühl, ziehende Unterleibs- oder Rückenschmerzen, vor allem nach einem «langen» Tag, Reizblase, wiederholte Harnwegsinfekte, Harn- oder Stuhlinkontinenz. Bestimmte Medikamente, etwa entwässernde Blutdrucksenker oder sogenannte Kalziumantagonisten, können eine Inkontinenz befördern. 

Geheimtipp Kokosöl
Die Hautpflege sei ein weiterer Pfeiler der Behandlung. Ruth Berners Geheimtipp: Kokosöl, mehrmals täglich auf die Schamlippen und in den Hautfältchen aufgetragen, «aber nicht in der Scheide». «Das funktioniert auch super, wenn’s beim Sex vor lauter Trockenheit staubt», sagt sie und lacht.

Nicht zuletzt sei das «Darm-Management» wichtig. «Wer dauernd auf dem WC pressen muss, strapaziert den Beckenboden. Verstopfung beschleunigt die Beckenbodensenkung am meisten. Überdies kann sie Blasenreizungen begünstigen», erläutert Berner. Ein «individuelles Darmmanagement» gehöre deshalb ebenfalls zum Therapieprogramm.  

Wenn all das nicht ausreichend hilft, gibt es andere Möglichkeiten. Dazu zählt beispielsweise eine Senkungsoperation. Oder das Selbst-Kathetisieren, um den Restharn aus der Harnblase zu entfernen.

Anfänglich skeptisch, dann erfreut
Solche Behandlungen sind das Eine, die Überzeugungsarbeit das Andere. «Viele können sich etwa mit dem Katheterisieren anfangs gar nicht anfreunden», stellt die Urotherapeutin immer wieder fest. Besonders in Erinnerung ist ihr eine hochbetagte Patientin mit wiederkehrenden Harnwegsinfekten – trotz Pessar –, die sehr skeptisch war. 

«Kommt überhaupt nicht in Frage», habe sie Berners Empfehlung zuerst kategorisch abgelehnt. Schliesslich wagte sie doch einen Versuch. «Seit Jahren katheterisiert sie sich nun täglich selbst morgens und abends die Harnblase», sagt Berner. «Das klappt wunderbar. Sie hat seitdem keine Harnwegsinfekte mehr.» 

Fünf Tipps der Urotherapeutin

Ruth Berner gehört zu den Pionierinnen der Urotherapie in der Schweiz. 2014, als sie ihre Ausbildung in Deutschland abschloss, gab es in der Schweiz sechs Urotherapeutinnen. Inzwischen sind es etwa 50. Ihre Vision sei, dass es einmal an jedem Schweizer Spital eine Urotherapeutin oder einen Urotherapeuten gebe. Ein grosses Problem ist laut Ruth Berner, dass die urotherapeutische Beratung mit dem Abrechnungstarif Tarmed nicht kostendeckend abgerechnet werden könne. Die folgenden fünf Tipps beherzigten viele Frauen ihrer Erfahrung nach (noch) nicht:

  • Frauen, die nach dem Sex zu Harnwegsinfekten neigen, kann ein längeres Vorspiel helfen. Dadurch wird die Scheide feuchter und die Harnröhre tritt etwas zurück. 
  • Beim Sex Gleitgel oder Gleitöl benützen, auch bereits in jungen Jahren. 
  • Beim Waschen und mit dem WC-Papier von vorn nach hinten wischen, damit möglichst wenig Darmbakterien Richtung Harnröhre gelangen.  
  • Bei wiederkehrenden Scheidenentzündungen und nach Antibiotikabehandlungen für sechs bis zwölf Tage Vaginaltabletten mit Milchsäurebakterien anwenden, um die Bakterienflora in der Scheide wieder aufzubauen. Auch ein in Joghurt getauchter Tampon kann helfen.
  • Verstopfung kann der Grund für Blasenprobleme sein. Deshalb auf weichen Stuhlgang achten.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf infosperber.ch

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