Appell für mehr Frauen brachte nichts
Frauen sollen in allen «Spiegel»-Beiträgen gleich oft zu Wort kommen wie Männer. Das war das selbst gesteckte Ziel der Redaktion vor einem Jahr. Sie nahm sich damals vor, Frauen häufiger als Interview- und Gesprächspartnerinnen zu zitieren und mehr Frauen zu porträtieren.
Stagnation statt Fortschritt
Ein Jahr später ist der Fortschritt ernüchternd, wie eine Analyse aller «Spiegel»-Texte zeigt, die zwischen dem 1. März 2021 und dem 28. Februar 2022 erschienen sind: Die Zahl der Beiträge, in denen Frauen namentlich erwähnt wurden, ist bloss um ein Prozent von 37 auf 38 Prozent gestiegen. Die Zahl der Texte, in denen ausschliesslich Männer als Protagonisten oder Experten vorkamen, sank bloss von 42 auf 40 Prozent. Die Zahl der Texte, in denen ausschliesslich Frauen namentlich erwähnt wurden, blieb mit sechs Prozent unverändert tief.
«Appelle allein reichen nicht»
Chefredaktor Steffen Klusmann schrieb im «Spiegel» enttäuscht: «Wir waren nicht so vermessen zu glauben, dass wir das Verhältnis von Männern und Frauen in unseren Texten innerhalb von einem Jahr auf 50:50 drehen könnten. Aber dass wir so geringe Fortschritte erzielen, hat uns ernüchtert. Zumal in unseren Redaktionskonferenzen immer wieder auf das Thema hingewiesen wird. Uns ist inzwischen bewusst, dass Appelle allein nicht reichen.»
«Wir müssen gelernte Denkmuster durchbrechen»
Ein redaktionelles Team soll sich nun kontinuierlich um «Diversitätsthemen» kümmern, Ungleichgewichte sichtbar machen und Änderungsvorschläge einbringen. Zudem will der «Spiegel» für die Redaktion eine Datenbank mit sachkundigen Fachleuten aufbauen. Ob diese Massnahmen etwas ändern, wisse er nicht, schreibt Klusmann. «Aber wir wissen, dass wir gelernte Denkmuster durchbrechen müssen, wenn wir die Welt so abbilden wollen, wie wir sie im Jahr 2022 vorfinden: eine Welt, in der Politikerinnen, Unternehmenschefinnen, Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen und Frauen aus allen anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Selbstverständlichkeit sind. Und in der unsere Leserinnen und Leser zu Recht erwarten, dass wir ihre Welt realitätsgetreu abbilden.»
Vorbild BBC
Vorbild für den «Spiegel» ist die britische Rundfunkanstalt BBC, die vor vier Jahren den internen Wettbewerb «50:50» lancierte. Ziel war es, innert zwei Jahren in den Beiträgen einen Frauenanteil von 50 Prozent bei den genannten Personen zu erreichen. Dieses Ziel erreichte die BBC. Im Unterschied zum «Spiegel» beliess sie es nicht beim Appell, sondern lancierte einen internen Wettbewerb. Mehr als 500 Teams von Sendungen der BBC und der BBC-Digitalredaktion nahmen freiwillig daran teil. Sie erhoben jeden Tag die Frauenanteile in ihren Beiträgen. Diese verglichen sie jeden Monat mit den Frauenanteilen in den Beiträgen der anderen teilnehmenden Redaktionen. Auf diese Weise motivierten die Redaktionen sich gegenseitig, mehr Frauen zu Wort kommen zu lassen.
Die BBC-Initiative «50:50» war auch Vorbild für verschiedene Projekte in der Schweiz. Der Verlag Ringier startete vor drei Jahren das Projekt «Equal-Voice». Beim öffentlich-rechtlichen Sender SRF heisst die Initiative «Chance 50:50». Beide belassen es wie die meisten anderen Medien beim Appell ohne Zielvorgabe.