«Das Patriarchat zweifelt nicht an sich»
«Feminismus», «Elitefeminismus» und «Feministinnen» brauche es in der Schweiz nicht mehr, erklärt seit Jahren die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ). Kürzlich lamentierte der Soziologe Martin Schröder eine Seite lang über Feministinnen, die angeblich einen Opferstatus zelebrieren. Die Mehrheit der Frauen fühle sich nicht als Opfer, weiss er. «Es dominiert ein Opferfeminismus, der moralisch aufgeladen ist und etwas Bevormundendes hat.» Dieser Feminismus schreibe anderen vor, wie sie zu leben haben. Er fordert: «Menschen sollen so leben können, wie sie wollen.»
Patriarchale Strukturen
Das würden Feministinnen sofort unterschreiben. Denn sie wissen: Frauen können dies oft nicht. Es geht Feministinnen nicht darum, alle zu Opfern zu erklären, wie Schröder unterstellt. Es geht ihnen darum, patriarchale Strukturen aufzubrechen, die sowohl Frauen als auch Männer einschränken. Eine dieser Feministinnen ist die US-Juristin Alexandra Dufresne. Sie hat sechs Jahre lang an Schweizer Hochschulen unterrichtet. Als sie in die Schweiz kam, musste sie feststellen, dass die Geschlechternormen hier noch traditioneller sind als in manchen konservativen US-Bundesstaaten. Vor ihrer Rückkehr in die USA beschrieb sie Ende letzten Jahres für das Online-Magazin «Elle XX», wie tief verwurzelt patriarchale Strukturen in der Schweiz sind.
«Männliche Privilegien sind allgegenwärtig»
Das Patriarchat sei in der Schweiz «selbstgefällig und herablassend», schreibt Dufresne. Männliche Privilegien seien allgegenwärtig und als normal akzeptiert. Frauen aller Hautfarben und Herkunft werte man grundsätzlich ab. In der Arbeitswelt gelte Selbstvertrauen bei Männern als Zeichen von Führungsstärke und bei Frauen als Zeichen von Arroganz. Deshalb erwarte man von Frauen, die hervorragende Leistungen erbringen, still im Hintergrund zu bleiben.
«Das Patriarchat zweifelt nicht an sich»
Dem Patriarchat in der Schweiz sei es gelungen, das Wohl der männlichen Hälfte der Bevölkerung als das Wohl der gesamten Gesellschaft zu definieren. «Das Patriarchat weiss, dass es immer noch die Oberhand hat, und zweifelt nicht daran, dass es im Recht ist.» Für Frauen sei dies erdrückend. «Es ist eine Sache, wenn die eigenen Rechte auf Gleichheit und Würde verletzt werden. Es ist eine andere Sache, wenn Menschen sich weigern, diese Verletzung anzuerkennen.»
Schuld sind die Frauen, nicht das Patriarchat
Das Patriarchat könne sich in der Schweiz halten, weil man Frauen suggeriere, für ihre Diskriminierung selber schuld zu sein. Frauen mache man verantwortlich für ihre schlechtere Bezahlung, Karriereknicke und sogar Gewalt. «Wenn du nicht von deinem Ehemann verletzt werden willst, warum hast du ihn dann immer wieder provoziert? Selbst schuld!» Wer gegen Diskriminierung und Gewalt aufbegehrt, gelte als aufdringlich, kompliziert, arrogant. Den Frauen gehe es in der Schweiz schliesslich besser als Frauen in anderen Ländern, heisse es.
In Ländervergleichen fällt die Schweiz zurück
Diesen «Whataboutism» kritisiert Dufresne. Vielen Frauen in anderen Teilen der Welt gehe es tatsächlich schlechter. Es gebe aber auch Länder, in denen es Frauen besser gehe. So falle die Schweiz bei Ländervergleichen zur Gleichstellung regelmässig negativ auf.
Im «Glass Ceiling Index 2022» der Zeitschrift The Economist ist die Schweiz nur auf Rang 26 von 29. Der Index misst die Rolle und den Einfluss von Frauen am Arbeitsplatz in den OECD-Ländern. Schlechter klassiert sind nur die Türkei, Japan und Südkorea. In diesen drei Ländern und der Schweiz stellt der Index seit 2016 keine Veränderungen fest.
In einer Rangliste zum Frauenanteil in Führungspositionen in europäischen Unternehmen aus dem Jahr 2021 ist die Schweiz auf Rang 16 von 19. Hinter ihr sind Polen, Luxemburg und Griechenland.
Im «Global Gender Gap Report 2022» des World Economic Forums (WEF) ist die Schweiz in Bezug auf wirtschaftliche Teilhabe und Chancen der Geschlechter nur auf Rang 47 von 146 untersuchten Ländern. Sie verlor 8 Plätze gegenüber 2021. Im Bildungsbereich kam sie lediglich auf Rang 82, unmittelbar hinter Deutschland und vor Katar. Die Schweiz war damit zwei Plätze schlechter als im Vorjahr. Und im Gesundheitsbereich landete sie sogar nur auf Rang 117, unmittelbar hinter Saudiarabien und vor dem Iran.
Patriarchat soll Junge nicht mehr bremsen
Damit die Schweiz in solchen Ranglisten nicht mehr auf den hinteren Rängen landet, müsse man es Frauen erleichtern, Karriere zu machen, meint Dufresne. Personalverantwortliche sollen beispielsweise Stellenbewerberinnen nicht mehr folgenlos nach Kindern und Kinderplänen fragen dürfen. Und Führungsteams nur aus Männern oder mit einer Alibifrau sollten auch in der Schweiz der Vergangenheit angehören. Sie habe Hunderte junge Schweizerinnen und Schweizer unterrichtet, die eine glänzende Zukunft vor sich haben, schreibt Dufresne. «Lassen wir nicht zu, dass unsere Selbstgefälligkeit mit dem Schweizer Patriarchat ihnen im Weg steht.»