Diese Frauen hätten Schlagzeilen machen sollen
«Frauen, Leben, Freiheit»
In Afghanistan nahmen im Herbst rund 25 mutige Aktivistinnen an einer Solidaritätskundgebung für die Menschen teil, die im Iran für Frauenrechte demonstrierten. Vor der iranischen Botschaft in Kabul skandierten die Demonstrantinnen den aus dem Iran bekannten Slogan «Frauen, Leben, Freiheit». In den Händen hielten sie Plakate mit Sätzen wie «Der Iran ist aufgestanden, jetzt sind wir dran» und «Nein zur Diktatur». Unter dem Schutz der Anonymität sagte eine der Organisatorinnen der französischen Nachrichtenagentur AFP: «Wir sind hier, um uns mit den Menschen im Iran zu solidarisieren und mit den Frauen in Afghanistan, die Opfer der Taliban sind.» Nach 15 Minuten lösten Sicherheitskräfte der Taliban die Demonstration gewaltsam auf. Sie schossen in die Luft und versuchten, die Demonstrantinnen mit Stöcken zu schlagen. Deren Plakate zerrissen sie. Es ist nicht die erste Demonstration von Aktivistinnen seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021. Mit ihrem Kampf für Frauenrechte setzen diese mutigen Frauen ihre Freiheit, ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel.
«Ich werde leben»
Die 24-jährige Schriftstellerin Lale Gül aus den Niederlanden wird so massiv bedroht, dass sie untertauchen musste. Der Grund: Die Muslimin beschreibt im Buch «Ich werde leben», wie der fundamentalistische Islam ihre Freiheit in den Niederlanden einschränkt. Ihre ultrakonservative türkische Familie habe ihr beispielsweise vieles verboten, was sie ihrem Bruder erlaubte: Musik hören, Filme schauen, am Strand liegen, Selfies machen, einen Freund haben. Schminke, Schmuck und Jeans seien für sie Tabu gewesen, das Kopftuch hingegen Pflicht. Das Buch ist letztes Jahr in den Niederlanden erschienen und löste eine Welle des Hasses und der Drohungen aus. Gül brauchte Personenschutz. In diesem Jahr erschien das Buch auf Deutsch. Die Drohungen wurden darauf so massiv, dass sie untertauchen und die Niederlande vorübergehend verlassen musste, wie niederländische Medien berichteten. Gül sagt, dass sie mit Gewalt gerechnet habe, als sie das Buch schrieb. «Doch sie macht mir schon schwer zu schaffen.» Sie verlor Freunde, Eltern und ihre Anonymität. «Aber ich kann jetzt leben wie ich will.» Die «Neue Zürcher Zeitung» titelte: «Endlich frei und doch gefangen».
Die 21-jährige Serena Fleites zieht in den USA den Pornoanbieter Mindgeek und das Kreditkartenunternehmen Visa zur Rechenschaft. US-Richter Cormac Carney hat ihre Klagen gegen die beiden Unternehmen zugelassen. Beide Unternehmen müssen sich jetzt vor Gericht dafür verantworten, dass sie mit der Vermarktung von Kinderpornografie Geld verdienen. Als Fleites 13 Jahre alt war, lud ein Kollege ihres damaligen Freundes ohne ihr Wissen und damit ohne ihre Zustimmung ein Nacktvideo von ihr auf Pornhub hoch. Das ist weltweit eine der grössten Porno-Webseiten und eine Tochterfirma von Mindgeek. Das Video wurde Millionen Mal angeklickt, bevor es Mindgeek löschte. Doch Nutzer konnten es jahrelang immer wieder hochladen. Jedes Mal verstrich viel Zeit bis Mindgeek es löschte. Das Unternehmen habe in dieser Zeit von den Werbeeinnahmen profitiert, die das Video einspielte, sagt Fleites. Visa habe am Zahlungsverkehr verdient, obwohl das Kreditkartenunternehmen gewusst habe, dass auf Pornhub Kinderpornografie zu sehen ist. Fleites wurde noch jahrelang von Unbekannten mit Verweis auf das Video kontaktiert und erpresst. Schliesslich wurde sie depressiv und verliess die Schule und die Familie. Sie wurde obdachlos und drogenabhängig. Mehrmals versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Mut fasste sie erst wieder, als vor zwei Jahren die «New York Times» an ihrem Beispiel über das Geschäftsmodell von Pornhub berichtete. Reporter Nicholas Kristof warf Mindgeek vor, mit Pornos Millionen zu verdienen, die der Konzern ohne Einverständnis von Frauen und Kindern auf den Porno-Webseiten veröffentlicht. Kristof: «Ein Übergriff ist mal zu Ende. Aber Pornhub macht das Leiden endlos.»
«Das einzige Verbrechen ist ihr Geschlecht»
Die US-Amerikanerin Carly Morris wurde im Herbst in Saudi-Arabien wegen «Destabilisierung der öffentlichen Ordnung» für ein paar Tage ins Gefängnis gesteckt, wie der «Guardian» berichtete. Grund war ein Tweet der muslimischen Konvertitin. Darin hatte sie Frauen gewarnt, nach Saudi-Arabien zu reisen. «Ihr werdet eurer Würde, eurer Ehre und eurer Rechte beraubt werden. Ihr werdet unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen. Jeder kann euch jederzeit alles antun, und ihr werdet nicht die dringend nötige Hilfe erhalten, die ihr braucht, und es wird keine Gerechtigkeit geben. Im Gegenteil, ihr werdet beschuldigt und im Gegenzug kriminalisiert.» Morris und ihre minderjährige Tochter sitzen seit drei Jahren in Saudi-Arabien fest. Ihr saudischer Ex-Mann hatte sie unter einem Vorwand in seine Heimat gelockt. Dann nutzte er das patriarchale Vormundschaftssystem, um das Sorgerecht für die minderjährige Tochter zu erhalten. Deren US-Staatsbürgerschaft wandelte er in die saudische um. Seither kann die Tochter ohne seine Einwilligung das Land nicht mehr verlassen. Morris wusste von allem nichts und hätte sich dagegen auch nicht wehren können. In Saudi-Arabien haben Frauen den Status von Minderjährigen. Die US-«Freedom Initiative» sprach von «Missbrauch» von Frauen und Kindern, «deren einziges Verbrechen ihr Geschlecht ist».
Gegen das patriarchale Vormundschaftssystem protestieren auch mutige saudische Frauen immer wieder. Für Aufsehen sorgten in diesem Sommer die unverhältnismässig harten Urteile gegen Salma al-Shehab und Nourah bint Saeed al-Qahtani. Sie wurden zu 34 und 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Ihre Vergehen sind Likes und Retweets von Beiträgen über Frauen- und Menschenrechte. Damit hätten sie die öffentliche Ordnung gestört und das Internet zur «Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung» genutzt, entschieden die Richter. Die Urteile gegen die wenig bekannten Frauenrechtsaktivistinnen gelten als Versuch des Regimes, Frauen einzuschüchtern.
In Vatikanstadt hat die Polizei im Sommer sieben Vertreterinnen des ökumenischen Netzwerkes «Women’s ordination Worldwide» (WOW) festgenommen, die für Gleichberechtigung in der katholischen Kirche demonstrierten. Anlass war ein Treffen der rund 200 Kardinäle aus aller Welt, die mit dem Papst unter anderem über Frauen in leitenden Positionen des Vatikans berieten. Die Demonstrantinnen übergaben den Kardinälen Flyer, in denen sie kritisierten, dass Frauen von den Beratungen ausgeschlossen waren. Sie trugen wie die Kardinäle rote Kleidung und geöffnete Schirme mit Slogans wie «Sexismus ist eine Kardinalssünde», «Frauen ordinieren», «Reform heisst Frauen», «Mehr als die Hälfte der Kirche». Als Journalisten begannen, Interviews und Fotos zu machen, führte die Polizei die Frauen ab und konfiszierte die Schirme. Nach Angaben der WOW wurden die Frauen erst nach über vier Stunden und unter Androhung weiterer Ermittlungen freigelassen. Miriam Duignan, WOW-Sprecherin sagte gegenüber der US-Nachrichtenagentur «Religion News Service»: «Es sind 197 Männer, die über die Zukunft der Kirche sprechen, ohne Frauen zu erwähnen. Und dann sind sieben Frauen – völlig harmlos, mit Papierschirmchen – so bedrohlich für sie, dass sie uns zu Unrecht festnehmen, demütigen und versuchen, uns einzuschüchtern.»