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Anne Spiegel habe ihre Kompetenzen überschätzt, hiess es nach ihrem Rücktritt. © ard

«Lieber keine Frau um jeden Preis»

fs /  Familie, Beruf oder Lügen: In der Politik gelten für Frauen andere Massstäbe. Bei der kleinsten Verfehlung stellt man ihre Kompetenzen in Frage.

In Deutschland musste kürzlich Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) zurücktreten. Ihr wurde vorgeworfen, letztes Jahr mit ihrer Familie in die Ferien gefahren zu sein, zehn Tage nachdem eine Jahrhundertflut Teile von Rheinland-Pfalz verwüstet hatte. Spiegel war damals Familienministerin und geschäftsführende Umweltministerin dieses Bundeslandes. Vor ihrer Abreise war sie einmal im Katastrophengebiet. Ihre Ferien begründete Spiegel Anfang dieses Jahres mit ihrer Familiensituation: Die Familie habe Urlaub dringend nötig gehabt. Ihr Mann, der sich als Hausmann um die vier Kinder kümmert, hatte zwei Jahre zuvor einen Schlaganfall und die vier Kinder unter Corona gelitten. Für diese Begründung erntete Spiegel Spott, Häme und Aberkennung ihrer Kompetenzen. Die Öffentlichkeit hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit anders reagiert, wenn diese Begründung von einem männlichen Minister gekommen wäre. Man würde wohl seine Nahbarkeit und die Fürsorge für die eigene Familie loben

Die Frau war zu sorglos
Spiegel entschied sich letzten Sommer, zuerst fürs Katastrophengebiet und zehn Tage später für ihre Familie da zu sein. Ihr Fall zeigt: Entscheidet sich eine Frau, weder auf Familie noch auf Karriere verzichten zu wollen, begibt sie sich auf ganz dünnes Eis. Unter dem Titel «Lieber keine Frau um jeden Preis» kommentierte die «NZZ am Sonntag»: «Gestolpert ist Anne Spiegel nämlich gerade, weil sie sich alles zugetraut und sich zu wenig gesorgt hat. Sorgen machten ihr weder Mehrfachbelastung noch ihre Kompetenzen oder die Fähigkeit zum Krisenmanagement.» 
Wenn man in diesen Sätzen die Frau durch einen Mann ersetzt wird klar, wie unterschiedlich die Erwartungen an Frauen und Männer in der Politik immer noch sind: «Lieber keinen Mann um jeden Preis»: «Gestolpert ist Max Mustermann nämlich gerade, weil er sich alles zugetraut und sich zu wenig gesorgt hat. Sorgen machten ihm weder Mehrfachbelastung noch seine Kompetenzen oder die Fähigkeit zum Krisenmanagement.»

Der Gesetzesbrecher bleibt im Amt
Für männliche Politiker gilt ein anderer Massstab, auch beim Belügen der Öffentlichkeit, wie zwei aktuelle Beispiele zeigen: In Grossbritannien feierte Boris Johnson vor zwei Jahren Parties, als dies wegen des Corona-Lockdowns verboten war. Der amtierende Premierminister behauptete in der Öffentlichkeit, er habe weder an illegalen Veranstaltungen teilgenommen noch Corona-Regeln gebrochen. Doch als er kürzlich wegen des Verstosses gegen die Corona-Regeln gebüsst wurde, zahlte er die Busse und entschuldigte sich. Die Frage britischer Medien, ob er ein Gesetzesbrecher sei, beantwortete er nicht. Er ist der erste Premierminister Grossbritanniens, der wegen Gesetzesbruchs im Amt bestraft wurde. Trotzdem wollten weder er noch seine Partei von Rücktritt etwas wissen.

In Österreich hat der frühere Bundeskanzler Sebastian Kurz mutmasslich die Öffentlichkeit belogen. Die Vorwürfe der Bestechlichkeit und Untreue weist er bis heute zurück. Die Beweise der ermittelnden Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft waren aber offensichtlich so erdrückend, dass er nach langem Zögern letzten Herbst doch zurücktrat. Zuerst nur als Bundeskanzler, später dann von allen Ämtern. Bei Kurz und bei Johnson geht es um Gesetzesbruch und Korruption, also um Straftatbestände. Bei Anne Spiegel um Kabinettssitzungen, an denen sie nicht wie behauptet per Videoschalte teilgenommen hatte. Diese vergleichsweise läppische Unwahrheit reichte, um sie aus ihrem Amt zu drängen.

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