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Mehr Frauenstimmen: BBC-Redaktionen erhöhten die Frauenanteile in ihren Beiträgen massiv. © BBC

«Es droht der Verlust wichtiger weiblicher Stimmen»

fs /  Journalistinnen kritisieren ein frauenfeindliches Arbeitsklima in einer Schweizer Mediengruppe. Das ist kein Einzelfall.

In der Mediengruppe «Tamedia» herrscht ein sexistisches Arbeitsklima, schreiben 78 Journalistinnen in einem offenen Brief an die Chefredaktionen und die Geschäftsleitung. Darin heisst es, dass «Tamedia»-Journalisten ihre Kolleginnen herablassend behandeln, sie beleidigen und beschimpfen und ihre Themenvorschläge unverhältnismässig hart kritisieren. «Frauen werden ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert. Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht. Frauen werden seltener gefördert und oft schlechter entlöhnt.» Weibliche Expertinnen und Exponentinnen bezeichne man abwertend als «Mädel» oder «trockene Guetzli». Homeoffice und Videositzungen hätten die männlich geprägte Betriebskultur laut den Journalistinnen verstärkt.

Männer prägen das Arbeitsklima
Sie weisen darauf hin, dass das Problem strukturell ist. Männer sind in den Redaktionen in der Überzahl und besetzen fast alle wichtigen Positionen. «Sie geben vor, was angesehen und geschätzt ist.» Männer steigen auf, Frauen werden übergangen. Aktuelles Beispiel sei die geplante Zusammenlegung der Redaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung». Für leitende Funktionen seien kaum Frauen vorgesehen. Laut den Journalistinnen ist der Frauenanteil auf den Redaktionen in den letzten Jahren gesunken, was den Leidensdruck auf die verbliebenen Frauen erhöht habe. «Es drohen weitere Abgänge, es droht der Verlust wichtiger weiblicher Stimmen und Expertise. Wir sind nicht bereit, diesen Zustand länger hinzunehmen.» Mittlerweile haben sich 125 Männer von «Tamedia» in einem Schreiben mit ihren Kolleginnen solidarisiert.

Chefredaktion reagiert «mit grosser Betroffenheit»
«Tamedia» gibt unter anderem die Tageszeitungen «Tages-Anzeiger», «Bund», «Berner Zeitung» und «Basler Zeitung» und das Gratisblatt «20 Minuten» heraus. Arthur Rutishauser, «Tamedia»-Chefredaktor, und Priska Amstutz, Co-Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers», schrieben in einer Stellungnahme, dass sie die Schilderungen sexistischer Erlebnisse am Arbeitsplatz «mit grosser Betroffenheit» gelesen haben. Die bisherigen Massnahmen zur Frauenförderung reichten nicht. «Es ist Zeit für eine verbindliche Strategie.» Eine interne Arbeitsgruppe werde bis Mitte Mai Vorschläge machen.

«Swiss Media Too»
«Tamedia» ist in der Schweizer Medienbranche kein Einzelfall: Bereits vor zwei Jahren hatte eine Umfrage von «Tamedia» aufgedeckt, dass in der Deutschschweiz und der Romandie vier von fünf Journalistinnen während ihrer Arbeit Sexismus erleben. Dabei geht es um Verhalten, das für Betroffene unangenehm ist, aber nicht als sexuelle Belästigung gilt.
Letztes Jahr enthüllte die Zeitung «Le Temps» das sexistische Arbeitsklima beim öffentlich-rechtlichen Westschweizer Sender RTS. Seither posten betroffene Journalistinnen und Journalisten auf dem Instagram-Kanal «Swiss Media Too» sexistische Erfahrungen, die sie in der Medienbranche gemacht haben.

Männer prägen auch die Inhalte
In Deutschland hat der «Spiegel» kürzlich herausgefunden, dass in 42 Prozent von rund 40’000 Artikeln, die zwischen März 2020 und Februar 2021 erschienen waren, einzig Männer namentlich erwähnt wurden. Mit nur 6 Prozent ist der Anteil der Artikel, die nur Frauen namentlich nannten, verschwindend klein. Dass dieses Verhältnis so eindeutig zuungunsten der Frauen ausfalle, habe nachdenklich gemacht, schrieb Chefredaktor Steffen Klusmann. Der Frauenanteil in Leitungsfunktionen der Redaktion liege mittlerweile bei 40 Prozent. Jetzt gehe es darum, Denkmuster zu verändern. Ziel müsse es sein, bei den namentlich erwähnten Personen in allen Beiträgen einen Frauenanteil von 50 Prozent zu erreichen.

«Es geht um einen Kulturwandel»
Vorbild ist die britische Rundfunkanstalt BBC, die vor drei Jahren den internen Wettbewerb «50:50» lancierte. BBC-Nachrichtenchefin Francesca Unsworth sagte damals: «Es geht um nicht weniger als um einen Kulturwandel.» Ziel war es, innert zwei Jahren in den Beiträgen einen Frauenanteil von 50 Prozent bei den genannten Personen zu erreichen. Dieses Ziel hat die BBC erreicht.


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