Die vorletzten Tage des Patriarchats
Luis Rubiales küsste nach dem WM-Sieg der Spanierinnen Weltmeisterin Jennifer Hermoso ungefragt auf den Mund. Als man den damaligen Präsidenten des spanischen Fussballverbandes dafür kritisierte, reagierte er wie viele Gewalttäter mit der Täter-Opfer-Umkehr. Er bezichtigte sie des Übergriffs und inszenierte sich als «Opfer von falschem Feminismus». Die Funktionäre des Verbandes machten mit und kündigten rechtliche Schritte gegen Hermoso an.
Solidarität mit Opfer
Doch sie hatten die Rechnung ohne deren Teamkolleginnen gemacht. Diese solidarisierten sich mit Hermoso. Sie drohten damit, ihren Streik fortzusetzen, den mehrere Spielerinnen für die WM unterbrochen hatten. Erst als der öffentliche Druck immer grösser wurde, distanzierten sich die Funktionäre von Rubiales. Der ungewollte «Kuss» sorgte weltweit für Schlagzeilen, auch weil er bei Millionen Frauen Erinnerungen an eigene Erfahrungen mit Übergriffen wachrief. Für Betroffene ist es schwierig, einen Übergriff zu beweisen. Die meisten verzichten deshalb auf eine Anzeige. Fussballerin Hermoso hatte das Glück, dass Kameras das Geschehen filmten und damit den Übergriff dokumentierten.
Langer Kampf gegen Diskriminierung
Die Reaktion von Hermoso und ihren Teamkolleginnen zeigt, was sich spätestens seit #MeToo verändert hat: Frauen wissen, dass sie mit der Erfahrung eines Übergriffs nicht allein sind. Und sie wissen, dass sie Übergriffe nicht wortlos wegstecken müssen. Hermoso hat Rubiales mittlerweile angezeigt. Und der Verband hat nach langen Verhandlungen mit den Nationalspielerinnen strukturelle Reformen zugesagt. Um was es konkret geht, wurde zunächst nicht öffentlich. Die zweifache Weltfussballerin Alexia Putellas sagte nur: «Wir wehren uns schon lange gegen die systematische Diskriminierung des Frauenfussballs.»
Frauen misstraut man
Das Verhalten der spanischen Fussballfunktionäre ist typisch: Täter und ihre Fürsprecher bezichtigen Frauen reflexartig der Lüge, wenn sie Übergriffe nicht mehr wortlos wegstecken. Sie wissen genau, dass die Betroffenen Übergriffe meist nicht beweisen können. Wenn ein Täter trotzdem vor Gericht kommt und aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird, gelten ihm die Sympathien, wie im Fall des US-Schauspielers Johnny Depp. Im Fall von Till Lindemann, Frontsänger der Rockband Rammstein, verzichteten die Frauen auf eine Anzeige und sprachen stattdessen mit den Medien. Doch auch dort ist das Misstrauen gegenüber Frauen gross. «Was jetzt, schon wieder einer?» titelte der «Tages-Anzeiger» kürzlich, nachdem vier Frauen dem britischen Starkomiker Russel Brand schwere sexuelle Belästigung vorgeworfen hatten. Die Frage signalisiert, dass man Frauen nach wie vor weniger glaubt.
«Zerfall des Patriarchats»
Es sind gute Zeiten, um nicht nur den «Zerfall des Patriarchats» zu beobachten, sondern auch sein letztes Aufbäumen, schreibt die feministische Autorin Margarete Stokowski im Buch «Die letzten Tage des Patriarchats». Die feministische Revolution sorge dafür, dass eine sehr alte Gesellschaftsstruktur langsam zerfalle. Heute falle es zum Beispiel auf, wenn ein Podium nur mit Männern besetzt ist. Und ein Foto nur mit Ministern in Anzügen sorge für Lacher, sagte Stokowski in der «Zeit: «Diese kleinen Momente, wenn Leute mit Lachen oder Wut auf etwas reagieren und etwas bemerken, darum geht’s.» Wir seien mittendrin in der feministischen Revolution. Im Kern gehe es darum, wem die Macht gehört und wer versucht, einen Anteil zu bekommen. Stokowski liess in der «Zeit» offen, wann die allerletzten Tage des Patriarchats sein werden.