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Claudia Goldin sagt, dass Mutterschaft die bis heute bestehenden Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen erklärt. © np

Nobelpreisträgerin entlarvt Mythen über Frauenarbeit

fs /  Frauen können am Arbeitsmarkt nicht frei entscheiden und verdienen deshalb immer noch weniger als Männer, sagt Nobelpreisträgerin Claudia Goldin.

Die US-Ökonomin hat 200 Jahre Unterschiede der Geschlechter am Arbeitsmarkt erforscht. Anfang Dezember erhält sie den Wirtschaftsnobelpreis für ihre Erkenntnisse zu Geschlechterrollen am Arbeitsmarkt und «den Hauptursachen für die verbleibenden geschlechtsspezifischen Unterschiede». 

Mutterschaftsstrafe
Aus Goldins Forschung geht unter anderem hervor, dass die meisten Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr frei entscheiden können, sobald sie ein Kind bekommen. Ihre Wahlfreiheit ist eingeschränkt, weil sie unbezahlte Arbeit im Haushalt erledigen. Frauen haben dann keine Zeit mehr für überlange Arbeitszeiten, Arbeit auch am Wochenende, abends und in den Ferien. Das hat Auswirkungen auf ihre Karrieren und damit auch ihre Löhne. Mutterschaft erklärt laut Goldin fast vollständig die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen, die es heute noch gibt.

Mythos Wahlfreiheit 
Die Forschung der Nobelpreisträgerin zeigt: Es ist ein Mythos, dass Frauen sich frei für Teilzeitarbeit und schlechter bezahlte Berufe entscheiden und seltener Karriere machen wollen. Goldin machte sichtbar, dass die Arbeitgeber und die Politik die Wahlfreiheit von Frauen einschränken. Die meisten Arbeitgeber sind unflexibel, was den Arbeitsort und die Präsenzzeit betrifft. Sie erwarten, dass ihre Mitarbeitenden Vollzeit arbeiten, flexibel und ständig einsatzbereit sind. Jobs, die ständige Verfügbarkeit und überlange Arbeitszeiten erfordern, honorieren sie überproportional gut. Wer diese Erwartungen nicht erfüllen kann, hat schlechtere Karrierechancen und tiefere Löhne. Die Bedürfnisse von Angestellten mit Betreuungspflichten beachten Arbeitgeber meist nicht. Bezahlbare Kinderbetreuungsplätze sind Mangelware. Und der Staat diskriminiert erwerbstätige Frauen vielerorts im Einkommenssteuerrecht.

Mythos Besserverdiener
Die unbezahlte Arbeit für Haushalt und Familie schränkt laut Goldin die Wahlfreiheit von Frauen bis heute ein. Die gängige Annahme, dass Frauen ihre Erwerbsarbeitszeit reduzieren, weil ihre Ehemänner besser verdienen, treffe nicht zu. Es sei umgekehrt: Die Männer verdienen mehr, weil die Frauen ihre Erwerbsarbeitszeit reduzieren, die unbezahlte Arbeit erledigen und ihre Männer deshalb Karriere machen können. Frauen hingegen müssen mit finanziellen Einbussen rechnen, mit den bekannten Folgen bis ins Rentenalter. Diese bekommen Frauen auch im Fall einer Scheidung zu spüren. Verpasste Karriereschritte können sie meist nicht mehr aufholen. Entsprechend tiefer bleiben ihre Löhne und Renten.

Hoffnungsschimmer Homeoffice
Die Lohnunterschiede würden laut Goldin geringer, wenn Arbeitnehmende selber bestimmen könnten, wo und wann sie ihre Arbeit erledigen. Frauen müssten dann ihre Erwerbsarbeitszeit weniger reduzieren. Voraussetzung wäre eine grundlegende Neugestaltung der Arbeitswelt. Ein Hoffnungsschimmer, dass es in diese Richtung gehen könnte, seien die Erfahrungen mit dem Homeoffice während der Pandemie, zitierte die «New York Times» Goldin. 

Unbezahlte Arbeit im Fokus
Wis­sen­schaft­le­rin­nen begrüssten die Wahl Goldins. Die Ökonomin Monika Bütler sagte in der «NZZ am Sonntag», Goldin habe Themen in die Ökonomie gebracht, die vorher kaum bearbeitet worden seien. Dazu gehöre die unbezahlte Care-Arbeit. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, hat bei Goldin studiert. Sie sagte im MDR, Goldin habe aufgezeigt, dass man die unbezahlte Arbeit immer mitberücksichtigen müsse, wenn man die Lohnkluft schliessen wolle. Wenn Politik die unbezahlte Arbeit anders verteilen wolle, brauche es beispielsweise bessere Anreize für Väter und mehr Betreuungsplätze für Kinder.

«Männer fürchten um ihre Privilegien»
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, schrieb in «Zeit Online», der Preis für Goldin sei eine der wichtigsten wissenschaftlichen Würdigungen der letzten Jahrzehnte. «Sie hat stets gegen Windmühlen gekämpft, da nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in grossen Teilen von Wirtschaft und Wissenschaft die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen lange Zeit als Gedöns abgetan wurde.» Goldin habe aufgezeigt, wie von privilegierten Männern dominierte Strukturen im Lauf der Geschichte Frauen immer wieder diskriminieren und instrumentalisieren. Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft würden sich nach wie vor weigern, diskriminierende Strukturen zu ändern, «vor allem weil Männer wohl um ihre Privilegien fürchten». 

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