Bildschirmfoto 2023-10-08 um 17.45.09

Frauen verdienen noch immer weniger als Männer, was finanzielle Auswirkungen bis ins Alter hat. © bmfsfj

Das Gerede von der angeblich «erreichten» Gleichstellung

fs /  «Frauen sind gleichberechtigt» ist ein beliebtes Narrativ geworden, um Gleichstellungsforderungen auszubremsen. Die Fakten sagen etwas anderes.

In Schweizer Medien sorgte der Soziologe Martin Schröder für Schlagzeilen mit seiner Feststellung, dass die Lebenszufriedenheit von Frauen und Männern annähernd gleich gut sei. Daraus zieht er den Schluss, dass die Gleichberechtigung «im Wesentlichen» erreicht sei. «Illiberale Feministinnen» würden Frauen einreden, unterdrückte Opfer zu sein. «Es besteht die Gefahr, dass unsere Ansprüche an Gerechtigkeit schneller ansteigen, als die Welt sich verbessert, und wir deswegen die Welt als schlechter betrachten, als sie tatsächlich ist», sagte Schröder im Interview mit Tamedia-Zeitungen. 

«Selber schuld»
Tiefere Löhne beispielsweise hält er nicht «zwingend» für ungerecht. Ein Grossteil des Lohnunterschiedes lasse sich mit persönlichen Entscheiden erklären wie der Berufswahl und der Höhe des Pensums. Mit dieser «selber schuld»-Argumentation zementiert Schröder herrschende Gesellschafts- und Machtstrukturen. Kritikerinnen unterstellt er, Frauen zu Opfern zu machen, obwohl sie gar keine Opfer seien. Die Schlagzeilen waren Werbung für sein neues Buch «Wann sind Frauen wirklich zufrieden?». Darin macht er Vorschläge für konkrete Massnahmen, die der Gleichberechtigung «wirklich» helfen. Diese sind überraschenderweise ähnlich wie die Forderungen der gescholtenen «illiberaler Feministinnen»: Anonyme Bewerbungsverfahren, flexible Arbeitszeiten, höhere Renten für Mütter und längerer Elternurlaub gehören dazu. 

Frauen sollen sich von der «Opferrolle» lösen
Für Schlagzeilen sorgten diese Forderungen nicht, im Unterschied zur Behauptung, die Gleichstellung sei erreicht. Auf diese trifft man mittlerweile überall: In der Politik, der Rechtsprechung, der Wissenschaft und in Medien. Meist geht es um Themen wie Karrierechancen, Lohngleichheit, unbezahlte Arbeit, Armut, Gewalt. In der Schweiz wollten Studentinnen keine Karriere machen, behauptete Anfang Mai die «SonntagsZeitung». Kurz darauf titelte der «Bund»: «Mehrheit lehnt Frauenförderung am Arbeitsplatz ab». Letztes Jahr hiess es vor der Abstimmung über die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre, die Gleichstellung sei erreicht. Nach der Abstimmung warf SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr im öffentlich-rechtlichen TV-Sender SRF Gegnerinnen vor, mit ihrer Kritik an der Erhöhung des Rentenalters die «Opferrolle der Frau» zu zelebrieren. Frauen müssten sich davon endlich lösen. Denn: «Die Gleichstellung ist erreicht.»

Stimmungsmacherin «Neue Zürcher Zeitung» 
Mit dem Schlagwort «Opferfeminismus» macht vor allem die «Neue Zürcher Zeitung» seit Jahren Stimmung gegen Gleichstellungsanliegen. Frauen sollten Eigenverantwortung übernehmen, statt es sich in der unmündigen Opferrolle bequem zu machen. «Als heterosexuelle Frau Diskriminierung einzuklagen, wird in westlichen Ländern langsam schwierig», hiess es kürzlich im Magazin der NZZ am Sonntag. Mit der Gleichberechtigung würden die «Opferprivilegien» der heterosexuellen Frauen wegfallen. Kurz vor dem nationalen Frauenstreik Mitte Juni hiess es, grosse Gleichstellungsdefizite scheine es keine mehr zu geben, da die bürgerlichen Frauen nicht am Streik teilnehmen wollten.

67 Jahre bis zur Gleichstellung 
Dem Gerede von der errichten Gleichstellung strafen die Zahlen für 2022 des Bundesamtes für Statistik Lügen. Danach gibt es beim Erwerbseinkommen klare geschlechtsspezifische Unterschiede: Über 104’000 Franken im Jahr verdienten 29 Prozent der Vollzeit erwerbstätigen Männer, aber nur 17 Prozent der Vollzeit erwerbstätigen Frauen. Unter 52’000 Franken im Jahr verdienten 16 Prozent der Vollzeit erwerbstätigen Frauen, aber nur 9 Prozent der Vollzeit erwerbstätigen Männer.

Im weltweiten Vergleich zur Gleichstellung hat die Schweiz gegenüber dem Vorjahr acht Plätze verloren und liegt jetzt auf dem 21. Rang von 146 untersuchten Ländern. Dies geht aus dem neusten «Global Gender Gap Report 2023» des Weltwirtschaftsforums (WEF) hervor. Im Bereich Wirtschaft verliert sie 16 Ränge und ist damit neu auf Platz 63. Hauptgründe sind gesunkene Löhne und der tiefere Frauenanteil in Führungspositionen. Am besten schneidet die Schweiz im Bereich Politik ab. Bis zur Gleichstellung dauert es laut dem WEF in Europa noch 67 Jahre. An der Spitze der WEF-Rangliste ist Island und am Schluss Afghanistan.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

IBAN: CH 0309000000604575581